In einer kleinen Stad
das Anrufe in Alans Haus weiterleitete, wenn niemand in der Station Telefondienst tat. Wenn nach viermaligem Läuten bei Alan niemand abnahm, schaltete sich der Bastard ein und forderte den Anrufer auf, die Staatspolizei in Oxford anzurufen. Es war ein Behelfssystem, das in einer Großstadt nicht funktioniert hätte, aber in Castle County, das von allen sechzehn Counties von Maine die wenigsten Einwohner hatte, erfüllte es seinen Zweck.
»Habe ich.«
»Gut. Ich habe das Gefühl, daß Alan heute nacht vielleicht nicht nach Hause gefahren ist.«
Sandy hob wissend die Brauen.
»Haben Sie irgendetwas von Lieutenant Payton gehört?«
»Kein Wort.« Sie hielt einen Moment inne. »War es schlimm, Norris? Ich meine – die Sache mit diesen beiden Frauen?«
»Ziemlich schlimm«, sagte er. Sein Zivil hing auf einem Kleiderbügel, den er am Griff eines Aktenschrankes aufgehängt hatte. Er nahm ihn und machte sich auf den Weg in die Herrentoilette. Seit ungefähr drei Jahren hatte er die Angewohnheit, sich im Büro umzuziehen, aber daß er das mitten in der Nacht tat, war nur sehr selten vorgekommen. »Gehen Sie nach Hause, Sandy – ich schließe ab, wenn ich fertig bin.«
Er stieß die Tür zur Toilette auf und hakte den Kleiderbügel über die Oberkante der Kabinentür. Er knöpfte gerade sein Uniformhemd auf, als an die Tür geklopft wurde.
»Norris?« rief Sandy.
»Ich glaube, außer mir ist niemand hier«, rief er zurück.
»Beinahe hätte ich es vergessen – jemand hat ein Geschenk für Sie hinterlassen. Es liegt auf ihrem Schreibtisch.«
Norris unterbrach das Aufknöpfen seiner Hose. »Ein Geschenk? Von wem?«
»Ich weiß es nicht – hier ging es zu wie in einem Irrenhaus. Aber es ist eine Karte daran. Und eine Schleife. Muß von einer heimlichen Geliebten stammen.«
»Meine Geliebte ist so heimlich, daß nicht einmal ich von ihr weiß«, sagte Norris mit ehrlichem Bedauern. Er zog die Uniformhose aus, hängte sie über die Kabinentür und stieg in seine Jeans.
Draußen lächelte Sandy McMillan mit einem Anflug von Boshaftigkeit. »Mr. Keeton war heute abend hier«, sagte sie. »Vielleicht hat er es gebracht. Vielleicht ist es ein Versöhnungsgeschenk.«
Norris lachte. »Wohl kaum.«
»Vergessen Sie nicht, mir morgen davon zu erzählen – ich möchte zu gern wissen, von wem es stammt. Es ist ein hübsches Päckchen. Gute Nacht, Norris.«
»Gute Nacht.«
Wer sollte mir schon ein Geschenk bringen ? dachte er, griff nach seiner Uniformhose, schüttelte sie aus und legte sie säuberlich in den Bügelfalten zusammen.
6
Sandy ging und schlug, als sie hinausging, den Mantelkragen hoch – die Nacht war sehr kalt und erinnerte sie daran, daß der Winter bevorstand. Cyndi Rose Martin, die Frau des Anwalts, gehörte zu den vielen Leuten, die sie heute gesehen hatte – Cyndi Rose war am frühen Abend aufgetaucht. Sandy hätte nie daran gedacht, das Norris gegenüber zu erwähnen; er bewegte sich nicht in den gehobenen gesellschaftlichen Kreisen der Martins. Cyndi Rose sagte, sie sei auf der Suche nach ihrem Mann, was für Sandy halbwegs einleuchtend klang (obwohl der Abend so chaotisch gewesen war, daß Sandy sich wahrscheinlich auch nichts dabei gedacht hätte, wenn Cyndi erklärt hätte, sie wäre auf der Suche nach Michail Baryschnikow), weil Albert Martin einen Teil der juristischen Arbeit für die Stadt erledigte.
Sandy sagte, sie hätte Mr. Martin an diesem Abend nicht gesehen, aber wenn sie wollte, könnte Cyndi Rose gern nach oben gehen und nachsehen, ob er bei Mr. Keeton war. Cyndi Rose sagte, das würde sie tun, da sie nun schon einmal hier wäre. Aber dann leuchteten die Lichter an der Schalttafel wieder auf wie an einem Weihnachtsbaum, und Sandy sah nicht, wie Cyndi Rose das rechteckige Päckchen in bunter Geschenkfolie und mit der blauen Samtschleife aus ihrer großen Handtasche holte und auf Norris Ridgewicks Schreibtisch stellte. Auf ihrem hübschen Gesicht lag ein Lächeln, als sie es tat, aber das Lächeln selbst war alles andere als hübsch – es war vielmehr ziemlich schadenfroh.
7
Norris hörte das Zufallen der Außentür und, undeutlich, das Geräusch von Sandys anspringendem Wagen. Er stopfte sein Hemd in die Jeans, schlüpfte in seine Schuhe und hängte seine Uniform sorgfältig auf den Kleiderbügel. Dann roch er an den Achselhöhlen des Hemdes und kam zu dem Schluß, daß es noch nicht in die Reinigung mußte. Das war gut; wieder etwas gespart.
Als er die Toilette
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