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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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immer respektiert, Al!«,
beteuerte mein Großvater.
    »Das weiß ich doch – deshalb haben diese feigen Ärsche auch dich
geschickt«, sagte Miss Frost zu ihm. »Komm mal her, William«, befahl sie mir
plötzlich. Als ich zu ihr ging, zog sie meinen Kopf an ihre nackten Brüste und
hielt ihn dort fest; ich wusste, sie spürte, wie ich zitterte. »Wenn du weinen
willst, mach es in deinem Zimmer, aber nicht in ihrer Hörweite«, riet sie mir.
»Wenn du weinen willst, schließ die Tür, und steck deinen Kopf unters
Kopfkissen. Wenn [353]  du willst, kannst du auch mit deiner guten Freundin Elaine
weinen, William – nur nicht vor ihnen. Versprich mir
das!«
    »Ich verspreche es dir!«, sagte ich ihr.
    »Bis dann, Harry – ich habe ihn wirklich beschützt, glaub mir«,
sagte Miss Frost.
    »Das glaube ich dir, Big Al. Und ich habe dich immer beschützt, musst du wissen!«, rief Grandpa Harry aus.
    »Das weiß ich doch, Harry«, sagte sie. »Vielleicht gelingt es dir jetzt nicht mehr, mich zu beschützen. Und brich dir dabei
keinen ab«, fügte sie hinzu.
    »Nur keine Sorge, Al.«
    »Da bin ich sehr zuversichtlich, Harry. Adieu, William – oder ›bis
wir uns wiedersehen‹, wie man so sagt«, sagte Miss Frost.
    Ich zitterte noch stärker, weinte aber nicht. Grandpa Harry nahm
meine Hand, und gemeinsam gingen wir die dunkle Kellertreppe hinauf.
    »Das muss ein bemerkenswertes Buch gewesen sein, das Miss Frost dir
da zu lesen gegeben hat, Bill – über das Thema, das wir besprochen haben«,
sagte Grandpa Harry, als wir die River Street entlang Richtung Bancroft Hall
gingen.
    »Ja, ein wahnsinnig guter Roman«, sagte ich ihm.
    »Ich könnte ihn wohl selbst mal lesen – falls Al einverstanden ist«,
sagte Grandpa Harry.
    »Ich habe versprochen, ihn einem Freund zu leihen«, sagte ich ihm.
»Danach könnte ich ihn dir geben.«
    »Ich glaube, ich besorge ihn mir besser bei Miss Frost, Bill – ich
möchte nicht, dass du dir Schwierigkeiten einhandelst, weil du ihn mir gibst!
Du hast bestimmt fürs Erste schon genug Schwierigkeiten«, flüsterte Grandpa
Harry.
    [354]  »Verstehe«, sagte ich; ich hielt immer noch seine Hand. Doch ich
verstand nicht; bei ihnen allen kratzte ich noch an
der Oberfläche. Was das wirkliche Verstehen betraf,
so machte ich erst langsam Fortschritte.
    Als wir in Bancroft Hall ankamen, waren die Jungs im Kippenraum
augenscheinlich enttäuscht, uns zu sehen. Sie erwarteten wohl, mich in
Gesellschaft des von ihnen angebeteten Kittredge zu sehen, und dann kam nur ich
mit meinem Großvater – klein, kahl und in der Arbeitskleidung eines
Holzfällers. Grandpa Harry gehörte ganz offensichtlich nicht zum Lehrkörper; er
war auch nicht auf die Favorite River Academy gegangen, sondern hatte die
Highschool in Ezra Falls besucht und nie studiert. Die Jungs im Kippenraum
beachteten meinen Großvater und mich überhaupt nicht; Grandpa Harry war das
bestimmt egal. Wie sollten diese Jungs Harry auch erkennen? Wenn einer Harry
schon mal gesehen hatte, dann auf der Bühne, in einer seiner Frauenrollen.
    »Du musst mich nicht in den zweiten Stock begleiten«, sagte ich
meinem Grandpa.
    »Wenn ich dich nicht begleite, Bill, musst du die Erklärerei übernehmen«, sagte Grandpa Harry. »Du hast heute Abend ja schon
allerhand hinter dir – warum überlässt du die Erklärerei nicht mir?«
    »Ich liebe dich –«, fing ich an, doch Harry ließ mich nicht
ausreden.
    »Na klar, und ich liebe dich auch«, sagte er. »Du vertraust mir
doch, dass ich nur das Richtige sage, nicht wahr, Bill?«
    »Aber ja«, antwortete ich. Ich vertraute ihm wirklich, [355]  und ich
war müde; ich wollte nur noch ins Bett. Ich sehnte mich danach, mein Gesicht in
Elaines BH zu vergraben, damit keiner hörte, wenn
ich weinte.
    Doch als Grandpa Harry und ich die Wohnung im zweiten Stock
betraten, war der Familienrat – an dem, wie ich erst später erfuhr, auch Mrs. Hadley teilgenommen hatte – bereits zu Ende.
Meine Mutter war in ihrem Schlafzimmer und hatte die Tür vielsagend
geschlossen; in dieser Nacht würde meine Mom bestimmt nicht mehr soufflieren. Nur Richard Abbott begrüßte uns, und er fühlte
sich etwa so wohl wie ein Hund mit Flöhen.
    Ich ging direkt, und ohne Richard (diesen Feigling und
Pantoffelhelden!) eines Wortes zu würdigen, in mein Zimmer, und da lag Giovannis Zimmer oben auf meinem Kopfkissen, nicht
darunter. Wer gab ihnen das Recht, in meinem Zimmer herumzuschnüffeln, meine
Sachen zu durchstöbern, dachte ich;

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