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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dann sah ich unter meinem Kissen nach:
Elaine Hadleys perlgrauer BH war weg.
    Ich ging zurück ins Wohnzimmer unserer kleinen Wohnung, wo Grandpa
Harry sich offensichtlich mit »der Erklärerei«, wie er es mir gegenüber
formuliert hatte, noch Zeit ließ.
    »Wo ist Elaines BH , Richard?«, fragte
ich meinen Stiefvater. »Hat meine Mom ihn genommen?«
    »Deine Mutter war wirklich nicht sie selbst«, sagte Richard zu mir.
»Sie hat den BH vernichtet, Bill, so leid es mir tut – sie hat ihn in kleine Stücke zerschnitten.«
    »Herrje –«, fing Grandpa Harry an, doch ich unterbrach ihn.
    »Nein, Richard«, sagte ich, »dabei war Mom
sie selbst, [356]  stimmt’s? Das war nicht Mom, die ›nicht sie selbst‹ war. Genau
so ist Mom wirklich.«
    »Also Bill«, meldete sich Grandpa Harry zu Wort. »Man kann
Frauenkleidung an diskreteren Stellen als unter einem Kopfkissen verstecken,
wie ich aus Erfahrung weiß.«
    »Ihr beide widert mich an«, sagte ich zu Richard Abbott, ohne
Grandpa Harry anzusehen; er war nicht gemeint, was er auch wusste.
    »Wir alle widern mich an, Bill«, sagte
Grandpa Harry. »Warum gehst du jetzt nicht ins Bett und überlässt die
Erklärerei mir?«
    Ehe ich mich zurückziehen konnte, hörte ich meine Mutter in ihrem
Schlafzimmer aufschluchzen; sie weinte so laut, dass wir alle sie hören
konnten. Was natürlich der Grund war, weshalb sie laut weinte – damit wir alle
sie hören konnten und Richard in ihr Schlafzimmer kam, um sie zu trösten, was
Richard auch tat. Meine Mom soufflierte auch außer
Dienst.
    »Ich kenne meine Mary«, flüsterte Grandpa Harry mir zu. »Sie will
sich die Erklärerei nicht entgehen lassen.«
    »Ich kenne sie auch«, sagte ich meinem Großvater, doch ich musste
noch viel mehr über meine Mutter erfahren – mehr, als ich ahnte.
    Ich küsste Grandpa Harry oben auf seine Glatze, und erst da wurde
mir klar, dass ich inzwischen größer als mein kleiner Großvater war. Ich ging
in mein Zimmer und machte die Tür hinter mir zu. Ich hörte meine Mom; sie
schluchzte immer noch. Da fasste ich den Entschluss, nie so laut zu weinen,
dass sie mich hören könnten, so wie ich es Miss Frost versprochen hatte.
    [357]  Auf meinem Kopfkissen lag eine ganze Bibel an Wissen und
Mitgefühl zum Thema schwule Liebe, doch ich war zu müde und wütend, um James
Baldwin weiter zu befragen.
    Ich wäre besser informiert gewesen, hätte ich die Stelle gegen Ende
des schmalen Romans noch einmal gelesen – nämlich die über »das Herz, das mit
dem Tod der Liebe erkaltet«. Wie Baldwin schreibt: »Das ist ein seltsamer
Vorgang. Er ist viel schrecklicher als alles, was ich darüber gelesen habe,
schrecklicher als alles, was ich darüber schreiben kann.«
    Hätte ich die Stelle in dieser schrecklichen Nacht noch einmal
gelesen, wäre mir vielleicht klargeworden, dass Miss Frost sich von mir
verabschiedet und dass sie mit dem seltsamen »bis wir uns wiedersehen« gemeint
hatte, dass wir uns nie wiedersehen würden.
    Vielleicht ist es besser, dass ich die Stelle damals nicht las oder
das alles damals nicht wusste. Als ich mich an diesem Abend ins Bett legte,
ging mir genug durch den Kopf – während ich durch die Zimmerwände das
manipulative Weinen meiner Mutter hörte.
    Leise hörte ich auch Grandpa Harrys ungewöhnlich hohe Stimme, wenn
auch nicht, was er sagte. Ich wusste nur, dass er mit »der Erklärerei« begonnen
hatte, ein Vorgang, der, wie ich wusste, auch in meinem Innersten intensiv in
Gang gesetzt worden war.
    Von nun an, dachte ich – als ich mit achtzehn Jahren im Bett lag,
kochend vor Wut –, bin ich es, der »die Erklärerei«
übernimmt.

[358]  9
    Doppelte Arschkarte
    Ich möchte das Wörtchen »fort« nicht überstrapazieren, und
ich habe Ihnen bereits erzählt, dass Elaine Hadley »in Etappen« fortgeschickt
wurde. Wie in jeder Kleinstadt oder ländlichen Gemeinde, in der es neben einer
öffentlichen auch eine Privatschule gab, kam es zwischen der Gemeinde und der
Academy regelmäßig zu Unstimmigkeiten – nicht aber im
Falle von Miss Frost, die vom Stiftungsrat der Stadtbücherei von First Sister
entlassen wurde.
    Grandpa Harry gehörte diesem Gremium nicht mehr an; doch selbst wenn
er noch Vorsitzender gewesen wäre, hätte er seine Mitbürger schwerlich dazu
überreden können, Miss Frost zu behalten. Im Falle der transsexuellen
Bibliothekarin zogen die Entscheidungsträger der Favorite River Academy mit der
Stadtverwaltung an einem Strang: Die Stützen der

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