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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Privatschule und ihre Pendants
in der Bürgerschaft waren sich einig, dass sie gegenüber Miss Frost die
größtmögliche Toleranz hatten walten lassen. Miss Frost jedoch sei »zu weit
gegangen«; sie habe »die Grenzen überschritten«.
    Moralische Entrüstung und rechtschaffene Empörung sind nicht auf
kleinstädtische Gemeinden und rückständige Schulen beschränkt, doch Miss Frost
stand nicht ganz ohne Fürsprecher da. Obwohl Richard Abbott deshalb [359]  wochenlang
von meiner Mutter »mit Schweigen gestraft« wurde, setzte er sich für Miss Frost
ein. Und zwar argumentierte er, mit der Verliebtheit eines ernsthaften jungen
Mannes konfrontiert, habe Miss Frost diesen in Wahrheit doch vor weitergehenden
sexuellen Spielen bewahrt.
    Auch Grandpa Harry verteidigte Miss Frost, obwohl er sich damit Nana
Victorias tödliche Verachtung zuzog. Es sei bewundernswert, wie viel
Zurückhaltung und Feingefühl Miss Frost an den Tag gelegt habe, sagte Harry –
ganz zu schweigen davon, dass sie für die Leser von First Sister eine Quelle
der Inspiration sei.
    Selbst Onkel Bob, der damit riskierte, von meiner äußerst
indignierten Tante Muriel noch barscher als sonst abgekanzelt zu werden,
meinte, man solle Big Al doch verschonen. Martha Hadley, die mich nach dem
erzwungenen Beziehungsabbruch zu Miss Frost weiter betreute, sagte, die
transsexuelle Bibliothekarin habe mein chronisch schwaches Selbstvertrauen
nachhaltig gestützt. Miss Frost habe es sogar geschafft, mir über ein
Ausspracheproblem hinwegzuhelfen, das, laut Mrs. Hadley, auf meine seelische
und sexuelle Unsicherheit zurückzuführen sei.
    Hätte irgendwer jemals auf Tom Atkins gehört, so hätte bestimmt auch
der arme Tom ein Wörtchen für Miss Frost einzulegen gehabt, aber Atkins war –
wie diese richtig erkannt hatte – eifersüchtig auf die betörende
Bibliothekarin, und als sie geschasst wurde, hielt er, schüchtern wie er war,
den Mund.
    Allerdings sagte er mir, als er Giovannis Zimmer ausgelesen hatte, der Roman von James Baldwin habe ihn aufgewühlt und verstört;
erst später sollte ich erfahren, dass [360]  Atkins infolge dieser anregenden
Lektüre ein paar neue Aussprachestörungen bekommen hatte. (Wen wundert’s, dass
das Wörtchen »Gestank« an erster Stelle rangierte.)
    Vielleicht war es kontraproduktiv, dass der lautstärkste unter Miss
Frosts Verteidigern ein ausländischer Exzentriker war. Der düstere norwegische
Holzfäller, wahnwitzige Forstwirt, Theatermann und Fjordspringer Nils Borkman
verkündete auf einer Bürgerversammlung, er sei Miss Frosts »größter Fan«.
(Möglicherweise schadete es Borkmans Verteidigungsstrategie, dass er dafür
bekannt war, diverse Sägemühlenarbeiter und Holzfäller verprügelt zu haben, die
abfällige Bemerkungen über Grandpa Harrys Bühnenauftritte als Frau gemacht
hatten – vor allem die Rüpel, die über Harrys weibliche Bühnen küsse gelästert hatten.)
    In Borkmans Augen war Miss Frost nicht nur eine Ibsen-Frau – was für
ihn hieß: sowohl die beste als auch die komplexeste Frau, die man sich nur
vorstellen konnte –, nein, der Norweger verstieg sich sogar zu der Behauptung,
Miss Frost sei weiblicher als jede Frau, die ihm in
Vermont je begegnet sei. Mrs. Borkman war vermutlich die einzige Frau, die sich
von dieser unerhörten Bemerkung nicht beleidigt fühlte, denn sie stammte
ebenfalls aus Norwegen.
    Borkmans Frau wurde selten gesehen und noch seltener gehört. Fast
niemand in First Sister erinnerte sich, wie sie aussah, und schon gar nicht, ob
sie – wie ihr Mann Nils – mit norwegischem Akzent redete.
    Jedenfalls richtete Nils im Handumdrehen irreparablen Schaden an.
Wegen Nils Borkmans Bemerkung stieß Miss Frost nun erst recht auf geharnischten
Widerstand – alles [361]  nur weil Nils Borkman gesagt hatte, sie sei weiblicher als jede ihm bekannte Frau in Vermont.
    »Nicht gut, Nils – gar nicht gut«, hatte Harry Marshall seinem alten
Freund auf der Bürgerversammlung zugebrummelt, doch da war das Kind schon in
den Brunnen gefallen.
    Auch ein Schläger, der das Herz auf dem rechten Fleck hat,
bleibt ein Schläger, aber der Groll auf Nils Borkman hatte andere Gründe. Als
ehemaliger Biathlet hatte Nils dem südlichen Vermont seine Liebe zu dieser
merkwürdigen Sportart vermittelt – einer Kombination aus Skilanglauf und
Schießen. Damals war Skilanglauf im Nordosten der USA noch nicht so beliebt wie heute. In Vermont gab es zwar schon einige wenige
kundige und beherzte

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