In einer Person
jedem
Auftritt von Grandpa Harry als Frau hatte ich lange und ausgiebig genug und bis
zum Überdruss studiert. In den Regieanweisungen heißt es über Mrs. Winemiller, dass sie einstmals ein verwöhntes und egoistisches Mädchen gewesen
war, die den Verpflichtungen des Erwachsenenlebens durch die Flucht in eine
perverse Infantilität zu entkommen trachtete. Sie ist allgemein bekannt als
»Mr. Winemillers Kreuz«.
Für meine Mom und mich war klar, dass sich Grandpa Harry bei seinem
griesgrämigen Porträt von Mrs. Winemiller sein Kreuz Nana Victoria zum Vorbild
nahm (was auch für Nana Victoria nicht zu übersehen war; meine missbilligend
dreinschauende Großmutter saß in der ersten Reihe des Publikums und wirkte wie
vom Donner gerührt, während Harry mit seinen Possen wahre Beifallsstürme
erntete).
[455] Meine Mutter musste den beiden Kinderdarstellern im Prolog
soufflieren, was das Zeug hielt; trotzdem ruinierten sie ihn völlig. Doch
bereits in der ersten Szene – genauer: als Mrs. Winemiller zum dritten Mal »Wo
ist der Mann mit dem Eis?« kreischte – johlte das Publikum, und als Grandpa als
Mrs. Winemiller am Ende der fünften Szene ihren unter ihrem Pantoffel stehenden
Gatten mit den Worten »Selber ein unerträgliches Kreuz, du alter – Trottel…!«
abkanzelte, tobte der Saal. Als der Vorhang fiel, stand ein kichernder Grandpa
Harry auf der Bühne.
Es war eine der besten Inszenierungen, die Nils Borkman je mit den
First Sister Players einstudiert hatte. Tante Muriel als Alma war hervorragend,
das musste ich zugeben. Selbst Miss Frost hätte meiner Tante Muriel in puncto Verklemmtheit kaum das Wasser reichen können.
Außer mit den Kinderdarstellern im Prolog hatte meine Mom nichts zu
tun; niemand verpatzte seinen Text. Zum Glück, denn bereits zu Beginn des
Stücks entdeckten wir Miss Frost in der ersten Reihe des Zuschauerraums. (Dass
Nana Victoria ebenfalls in der ersten Reihe saß, trug noch weiter zu ihrer
Verblüffung bei; meine Großmutter musste nicht nur ihr vernichtendes Porträt
als zänkische Ehefrau und Mutter durch ihren Ehemann ertragen, sondern auch
noch nur zwei Stühle von dem transsexuellen Ringer entfernt sitzen!)
Beim Anblick von Miss Frost hätte meine Mutter ihre Mutter auch
auffordern können, auf die Bühne zu urinieren, es wäre ihr nicht einmal
merkwürdig vorgekommen. Miss Frost hatte ihren Sitzplatz natürlich mit Bedacht
gewählt. Sie wusste, wo die Souffleuse hinter der Bühne [456] postiert war; und
sie wusste auch, dass ich mich immer in deren Nähe befand. Meiner Mutter und
mir war klar, dass, wenn wir Miss Frost sehen konnten, sie uns umgekehrt auch
sah. Und tatsächlich schenkte Miss Frost ganze Szenen von Sommer
und Rauch lang den Schauspielern auf der Bühne keinerlei Beachtung,
sondern lächelte einfach nur mich an, während meine Mutter immer gequälter
dreinblickte und darin Nana Victoria glich, die aussah, als hätte man ihr mit
dem Kantholz einen Schlag auf den Schädel verpasst.
Jedes Mal, wenn Muriel-als-Alma auftrat, öffnete Miss Frost ihre Handtasche
und holte ihre Puderdose hervor. Und während Muriel die Verklemmte spielte,
bewunderte Miss Frost in dem Dosenspiegelchen ihren Lippenstift, oder sie
betupfte Nase und Stirn mit ein wenig Puder.
Als ich als Archie beim letzten Vorhang nach einem Taxi rufend von
der Bühne lief – und es Muriel als Alma überließ, eine Geste »des Staunens und der Endgültigkeit« zu finden, die ohne
Worte auskam –, stieß ich auf meine Mutter. Sie wusste, auf welcher Seite ich
von der Bühne abging, und hatte ihren Souffleusenstuhl verlassen, um mich
abzufangen.
»Du sprichst kein Wort mit dieser Kreatur, Billy«, sagte meine Mom.
Ich war auf ein solches Showdown vorbereitet und hatte alle
möglichen Erwiderungen zu meiner Verteidigung geübt. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie mir eine so perfekte Chance zum
Angriff bieten würde. Richard Abbott, der den John gespielt hatte, war offenbar
auf der Toilette; er war nicht da, um ihr beizustehen. Muriel war noch ein paar [457] Sekunden lang auf der Bühne – begleitet von einem alles übertönenden
Beifallssturm.
» Und ob ich mit ihr sprechen werde, Mom«,
fing ich an, doch Grandpa Harry ließ mich nicht ausreden. Mrs. Winemillers
Perücke war verrutscht, und ihre mächtigen Gummititten klumpten zu dicht
beieinander, doch Mrs. Winemiller fragte jetzt nicht nach Eiskrem. Sie war auch
kein Kreuz, das irgendwer tragen musste – nicht in dieser Szene –,
Weitere Kostenlose Bücher