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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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das oben im vierten Stock lag.
    [522]  Während wir uns durch den Flur vor den Schülerzimmern im zweiten
Stock manövrierten, muss ich noch einmal leise »España« gesagt haben – oder
wohl doch nicht so leise, weil Elaine mich hörte.
    »Ich frag mich ja schon, was für ein Oralsex-Ding España genau ist.
Es ist nichts Schlimmes, oder, Billy?«, fragte sie mich.
    Im Flur stand ein Junge im Schlafanzug – ein so kleiner Junge, die
Zahnbürste in der Hand. Seinem erschrockenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen,
wusste er nicht, wer Elaine und ich waren; und er hatte offensichtlich gehört,
was Elaine über das Oralsex-Ding namens España gesagt hatte.
    »Wir machen nur Quatsch«, sagte ich dem kleinen Jungen. »Es wird
nichts Schlimmes passieren. Oralsex findet nicht statt!«, sagte ich zu Elaine
und zu dem Jungen im Schlafanzug. (Mit seiner Zahnbürste erinnerte er mich
natürlich an Trowbridge.)
    »Trowbridge ist tot. Hast du Trowbridge gekannt? Er ist in Vietnam
gefallen«, sagte ich zu Elaine.
    »Ich kenn keinen Trowbridge«, nuschelte Elaine; genau wie ich konnte
sie den Blick nicht von dem kleinen Jungen im Schlafanzug wenden. »Du weinst
ja, Billy – hör bitte auf zu weinen«, sagte sie. Wir standen aneinandergelehnt,
während ich die Tür zur Wohnung des stummen Richard aufbekam. »Mach dir keine
Sorgen, weil er weint – seine Mutter ist gerade gestorben. Das wird schon
wieder«, sagte Elaine zu dem Jungen mit der Zahnbürste. Aber ich hatte
Trowbridge dort stehen sehen, und vielleicht sah ich voraus, dass es noch mehr
Tote geben würde; vielleicht [523]  hatte ich eine Vorahnung der Gefallenenlisten
in relativ naher Zukunft.
    »Billy, Billy – bitte hör auf zu weinen«, sagte Elaine. »Was hast du
gemeint? ›Oralsex findet nicht statt!‹ Glaubst du, ich bluffe ?
Du kennst mich doch, Billy – damit ist Schluss. Ich bluffe nicht mehr, Billy«, brabbelte sie weiter.
    »Mein Vater ist am Leben. In Spanien, wo er glücklich ist. Mehr weiß
ich nicht, Elaine«, sagte ich ihr. »Mein Dad, Franny Dean, lebt in Spanien –
España.« Aber weiter kam ich nicht.
    Elaine war aus ihrem Mantel geschlüpft, als wir stolpernd das
Wohnzimmer von Richard und meiner Mutter durchquert hatten; sie hatte sich die
Schuhe und den Rock abgestreift, als sie in mein Zimmer kam, und kämpfte gerade
mit den Knöpfen ihrer Bluse, als sie – in einer anderen Schicht ihres
umnebelten Bewusstseins – das Bett meiner Jugendjahre sah und hineinschlüpfte,
oder es jedenfalls irgendwie schaffte, sich daraufzuwerfen.
    Als ich neben ihr auf dem Bett kniete, sah ich, dass sie völlig
weggetreten war; schlaff und reglos ließ sie sich von mir die Bluse ausziehen
und die anscheinend ziemlich unbequeme Halskette abnehmen. Ich steckte sie in
ihrer Unterwäsche ins Bett und machte mich an die vertraute Aufgabe, mich in
das schmale Bett neben sie zu quetschen.
    »España«, flüsterte ich im Dunkeln.
    »Du zeigst es mir, ja?«, murmelte Elaine im Schlaf.
    Vor dem Einschlafen dachte ich darüber nach, warum ich nie versucht
hatte, meinen Vater zu finden. Zum Teil hatte ich es mir schöngeredet: Wenn er
neugierig auf mich ist, soll er mich doch finden, hatte ich mir gesagt. Dabei [524]  hatte
ich in Wahrheit schon einen großartigen Vater: Mein Stiefvater Richard Abbott
war das Beste, das mir je passieren konnte. (Meiner Mutter, die nie glücklich
gewesen war, hätte auch nichts Besseres als Richard passieren können; mit ihm
muss sie glücklich gewesen sein.) Vielleicht hatte ich nie versucht, Franny
Dean zu finden, weil ich dann das Gefühl gehabt hätte, Richard zu betrügen.
    »Was ist los mit dir, Jacques Kittredge?«, hatte Tennisarm-Bob
geschrieben; natürlich dachte ich beim Einschlafen auch daran.

[525]  12
    Nur noch Epiloge
    Kündigen Seuchen ihr Kommen an, oder treffen sie im
Allgemeinen unangemeldet ein? Ich bekam zwei Vorwarnungen; damals schienen sie
reiner Zufall zu sein – ich beachtete sie nicht.
    Nach dem Tod meiner Mutter vergingen einige Wochen, ehe Richard
Abbott wieder zu reden begann. Er gab weiter, wenn auch rein mechanisch,
Unterricht an der Academy und studierte mit seinen Schülern ein Theaterstück
ein – doch denen von uns, die ihn liebten, hatte er nichts Persönliches zu
sagen.
    Im April desselben Jahres (1978) erzählte mir Elaine, Richard habe
mit ihrer Mutter gesprochen. Kaum hatten Elaine und ich aufgelegt, rief ich
Mrs. Hadley an.
    »Ich weiß, dass Richard dich anrufen wird, Billy«, sagte mir

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