In einer Person
Martha
Hadley. »Erwarte aber nicht, dass er genauso ist wie früher.«
»Wie geht’s ihm?«, fragte ich sie.
»Ich will es einmal zurückhaltend formulieren«, sagte Mrs. Hadley.
»Nichts gegen Shakespeare, aber wenn du mich fragst, kann man es mit dem
Friedhofshumor auch übertreiben.«
Ich hatte keine Ahnung, was Mrs. Hadley damit meinte; ich wartete
einfach auf Richards Anruf. Es wurde wohl [526] Mai, bis ich endlich von ihm hörte,
und Richard legte sofort los – als hätten wir nie den Kontakt verloren.
Angesichts seiner Trauer nahm ich an, Richard habe weder die Zeit
noch das Interesse gehabt, meinen dritten Roman zu lesen, doch er hatte ihn
gelesen. »Dieselben alten Themen, aber besser in der Ausführung – Appelle um
Toleranz werden nie langweilig, Bill. Natürlich ist jeder gegenüber irgendwas
oder irgendwem intolerant. Weißt du, in Bezug auf was du intolerant bist, Bill?«, fragte mich Richard.
»Was könnte das wohl sein?«
»Du bist gegenüber Intoleranz intolerant – hab ich recht, Bill?«
»Ist es nicht gut, bei so etwas intolerant
zu sein?«, fragte ich ihn.
»Und du bist auf deine Intoleranz auch noch stolz, Bill!«, rief Richard. »Du hast einen sehr berechtigten Zorn auf Intoleranz – besonders auf Intoleranz gegenüber sexuellen
Abweichungen. Ich würde weiß Gott nie behaupten, du hättest kein Recht darauf, zornig zu sein, Bill.«
»Weiß Gott«, wiederholte ich zögernd. Ich wusste nicht recht, worauf
Richard hinauswollte.
»So nachsichtig du gegenüber sexuellen
Abweichungen bist – und zwar zu Recht, Bill! –, bist du doch nicht immer so nachsichtig, oder?«, fragte Richard.
»Na ja…«, fing ich an und brach wieder ab. Darauf wollte er also hinaus; ich hörte das nicht zum ersten Mal. Richard hatte mir
gesagt, ich hätte 1942, als ich geboren wurde, nicht in der Haut meiner Mutter
gesteckt und könne und solle sie nicht verurteilen. Dass ich ihr nicht [527] verziehen
hatte, wurmte ihn – dass ich ihrer Intoleranz
gegenüber intolerant war, brachte ihn auf die Palme.
»Wie Porzia sagt: ›Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang.‹ Vierter
Aufzug, erste Szene – aber ich weiß, dass es nicht dein Lieblingsstück von
Shakespeare ist, Bill«, sagte Richard Abbott.
Stimmt, wir hatten uns vor achtzehn Jahren im Unterricht über Der Kaufmann von Venedig gestritten. Es war eins der
wenigen Stücke Shakespeares, die wir zwar im Unterricht durchgenommen, die
Richard aber nicht inszeniert hatte. »Es ist zwar
eine Komödie – eine Liebeskomödie –, aber mit einer zentralen Figur, die nicht
komisch ist«, hatte uns Richard damals erklärt. Er meinte Shylock und
Shakespeares unbestreitbares Vorurteil gegenüber Juden.
Ich ergriff für Shylock Partei. Porzias Rede über »Gnade« war reine
Bigotterie – Christentum in seiner arrogantesten und verlogensten Variante.
Während Shylock nicht ganz unrecht hat: Der Hass, der ihm entgegengebracht
wurde, lehrte ihn zu hassen. Und zwar zu Recht!
»Ich bin ein Jude«, sagt Shylock – 3. Aufzug, 1. Szene. »Hat nicht
ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne,
Neigungen, Leidenschaften?« Ich mag diese Rede! Aber Richard wollte nicht daran
erinnert werden, dass ich schon immer auf Shylocks
Seite stand.
»Deine Mom ist tot, Bill. Empfindest du denn gar nichts für deine
Mutter, hast du keine Gefühle mehr?«, fragte mich Richard.
»Keine Gefühle«, wiederholte ich. Ich dachte an ihren Hass auf
Homosexuelle – wie sie mich abgelehnt hatte, [528] nicht nur weil ich meinem Vater
ähnelte, sondern auch weil ich etwas von seiner schrägen (und unerwünschten)
sexuellen Orientierung geerbt hatte.
»Wie sagte es Shylock?«, fragte ich Richard Abbott. (Ich wusste ganz
genau, wie Shylock es sagte, und mein Stiefvater wusste, dass ich ihm recht
gab.) »›Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?‹, fragt Shylock. ›Wenn ihr uns
kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?‹«
»Schon gut, Bill – ich weiß, ich weiß. Du machst keine halben
Sachen«, sagte Richard.
»›Und wenn ihr uns beleidigt‹«, fuhr ich fort, Shylock zu zitieren,
»›sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen
wir’s euch auch darin gleichtun.‹ Und was haben sie mit Shylock gemacht,
Richard?«, fragte ich. »Sie haben ihn gezwungen, ein Scheiß- Christ zu werden!«
»Es ist ein schwieriges Stück, Bill – deshalb habe ich es nicht auf
die Bühne
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