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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dezember.
    »Oje«, sagte Elaine, als ich ihr das Familienfoto der Atkins’
zeigte. »Wo ist Tom?«
    Atkins fehlte auf dem Bild. Die Namen der Familienmitglieder waren
in Kapitälchen auf der Weihnachtskarte gedruckt: TOM,
SUE, PETER, EMILY & JACQUES ATKINS . (Jacques war der Labrador;
Atkins hatte den Hund nach Kittredge genannt!) Doch Tom hatte es nicht auf das
Familienfoto geschafft.
    [557]  »Vielleicht fühlte er sich gerade nicht besonders fotogen«, sagte
ich zu Elaine.
    »Er hatte doch schon letzte Weihnachten eine ganz fahle
Gesichtsfarbe, erinnerst du dich? Und er hatte enorm abgenommen«, sagte Elaine.
    »Die Skimütze hatte er über Haare und Augenbrauen gezogen«, ergänzte ich. (Tom Atkins hatte mir zwar keine Rezension
meines vierten Romans geschickt. Dennoch bezweifelte ich, dass Atkins seine
Ansicht über Madame Bovary geändert hatte.)
    »Scheiße, Billy«, sagte Elaine. »Was hältst du von dieser Notiz?«
    Die handgeschriebene Mitteilung auf der Rückseite des
Weihnachtsfotos stammte von Toms Ehefrau. Sie war kurz und knapp und nicht
gerade sehr weihnachtsmäßig.
    Tom hat von Ihnen gesprochen. Er würde
sie gerne sehen.
    Sue Atkins
    »Ich glaube, er liegt im Sterben – das glaube ich«, sagte ich zu
Elaine.
    »Ich komme mit, Billy; Tom hat mich immer gemocht.«
    Elaine hatte recht – der arme Tom hatte sie (und Mrs. Hadley)
regelrecht angehimmelt, und wie in alten Zeiten flößte mir Elaines Gegenwart
Mut ein. Falls Atkins an Aids starb – da war ich mir ziemlich sicher –, wusste
seine Frau schon alles über unseren gemeinsamen Sommer in Europa vor zwanzig
Jahren.
    Ich rief Sue Atkins noch am selben Abend an. Es stellte sich heraus,
dass Tom Atkins in seinem Haus in Short Hills, [558]  New Jersey, Hospizpflege
erhielt. Ich hatte nie gewusst, was Atkins beruflich machte, aber seine Frau
erzählte mir, Tom sei Geschäftsführer einer Lebensversicherung gewesen und habe
länger als zehn Jahre in New York gearbeitet. Ich schloss daraus, dass er all
die Jahre nie das Bedürfnis verspürt hatte, mich wiederzusehen; umso
überraschter war ich, als Sue Atkins sagte, sie sei davon ausgegangen, dass wir
öfter miteinander essen gegangen seien; offenbar war Tom immer wieder mal erst
nach dem Essen nach New Jersey zurückgekommen.
    »Mich hat er nicht getroffen«, sagte ich zu Mrs. Atkins. Ich erwähnte,
dass auch Elaine Tom besuchen wolle – falls wir nicht »ungelegen« kämen, wie
ich es formulierte.
    Ehe ich erklären konnte, wer Elaine war, sagte Sue Atkins: »Ja, das
wäre in Ordnung – ich weiß über Elaine Bescheid.« (Ich fragte Mrs. Atkins
nicht, was sie über mich gehört hatte.)
    Elaine hatte wieder mal einen Lehrauftrag an einer Universität und
korrigierte gerade Abschlussarbeiten, wie ich am Telefon erklärte. Vielleicht
könnten wir an einem Samstag nach Short Hills kommen, dann wäre der Zug nicht
so voller Pendler.
    »Die Kinder haben dann keine Schule und sind zu Hause, aber Tom ist
einverstanden«, sagte Sue. »Jedenfalls weiß Peter, wer Sie sind. Diese
Europareise –« Sie stockte. »Peter weiß, was los ist, und er hängt sehr an
seinem Vater«, fuhr Mrs. Atkins fort. »Aber Emily – na ja, sie ist jünger. Ich
bin mir nicht sicher, wie viel Emily wirklich weiß. Dem, was die eigenen Kinder
von anderen Kindern in der Schule hören, kann man nicht viel entgegensetzen –
nicht, wenn [559]  die eigenen Kinder einem nicht verraten, was die anderen Kinder
sagen.«
    »Es tut mir leid, was Sie durchmachen müssen«, sagte ich zu Toms
Frau.
    »Mir war immer klar, dass so etwas passieren könnte. Tom war immer
ehrlich, was seine Vergangenheit betraf«, sagte Sue Atkins. »Ich wusste nur nicht,
dass er diesen Lebenswandel wiederaufgenommen hat. Und diese furchtbare
Krankheit –« Wieder brach ihre Stimme ab.
    Während unseres Telefonats hatte ich die ganze Zeit die
Weihnachtskarte vor Augen. Das Alter von Mädchen konnte ich noch nie gut
einschätzen. Und bei Emily wusste ich nur, dass sie das jüngere Kind war. Den
Jungen, Peter, schätzte ich auf vierzehn oder fünfzehn – etwa im gleichen Alter
wie der arme Tom, als ich ihn kennenlernte und ihn für einen Versager hielt,
der nicht mal das Wort Zeit aussprechen konnte.
Atkins hatte mir gesagt, er werde mich Bill statt Billy nennen, weil ihm
aufgefallen war, dass Richard Abbott immer Bill zu mir sagte, und jeder merkte,
wie sehr ich Richard mochte.
    Tom hatte mir auch gestanden, dass er einmal, als er auf dem Gang
warten

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