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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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musste, bis er an die Reihe kam, durch die geschlossene Tür gehört
hatte, wie Martha Hadley laut und deutlich ausgerufen hatte: »Billy, Billy – du
hast nichts falsch gemacht!« (An jenem Tag hatte ich Mrs. Hadley gestanden,
dass ich für andere Jungs und Männer schwärmte, und ihr auch von meiner
allmählich verblassenden Schwärmerei für Richard und meiner noch viel
verheerenderen Schwärmerei für Kittredge erzählt.)
    Später hatte der arme Tom mir erzählt, er habe geglaubt, [560]  ich
hätte eine Affäre mit Mrs. Hadley! »Ich dachte wirklich, du hättest gerade in
ihrem Büro ejakuliert oder so was und dass sie dir
versicherte, du hättest nichts ›falsch‹ gemacht – ich dachte, das hätte sie mit
dem Wort falsch gemeint, Bill«, hatte Atkins mir
gestanden.
    »Was bist du doch für ein Idiot !«, hatte
ich ihm damals entgegnet; jetzt schämte ich mich dafür.
    Ich fragte Sue Atkins, wie es Tom gehe – und meinte damit die
sogenannten opportunistischen Erkrankungen, die ich ja inzwischen hautnah
miterlebt hatte, und welche Medikamente Tom nehme. Als sie sagte, er bekomme
von dem Bactrim Ausschläge, wusste ich, dass Tom wegen Pneumocystis-Pneumonie
behandelt wurde. Da Tom zu Hause gepflegt wurde, war er nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen; und vermutlich war seine Atmung rauh und rasselnd.
    Sue Atkins erzählte auch, dass Tom das Essen zunehmend schwerfalle.
»Er hat Schluckbeschwerden«, sagte sie mir. (Allein bei dem Wort
»Schluckbeschwerden« musste sie ein Husten unterdrücken – oder war es ein
Würgen? Und sie klang auch plötzlich kurzatmig.)
    »Ist es wegen des Candida-Pilzes, dass er nicht essen kann?«, fragte
ich sie.
    »Ja, er hat eine Candidaösophagitis«, sagte Mrs. Atkins, die mir
inzwischen auch vertrauten Begriffe kamen ihr problemlos über die Lippen. »Und – seit kurzem – hat er einen Hickman-Katheter.«
    »Seit wann genau?«, fragte ich sie.
    »Oh, den hat er erst letzten Monat bekommen«, sagte sie. Sie führten
ihm also Nahrung durch den Katheter zu – [561]  wegen Unterernährung. (Bei Candida
sprachen Schluckbeschwerden in der Regel auf Fluconazol oder Amphotericin B an – falls der Hefepilz keine Resistenz entwickelt hatte.)
    »Wenn sie einem zur künstlichen Ernährung einen Hickman legen, Bill,
ist man praktisch am Verhungern«, hatte mir Larry erzählt.
    Ich musste immer wieder an den Jungen, Peter, denken. Auf dem
Weihnachtsfoto erinnerte er mich an den Tom Atkins von früher. Ich stellte mir
vor, Peter könnte ebenfalls (in Toms Worten von früher) »wie wir« sein, und
fragte mich, ob es Tom womöglich überhaupt auffallen würde. So hatte Tom es vor
Jahren formuliert: »Nicht jeder hier versteht Menschen wie uns«, und ich hatte
mich gefragt, ob Atkins das als Anmache gemeint hatte. (Es war der erste
Annäherungsversuch gewesen, den einer wie ich je bei
mir gemacht hatte.)
    »Bill!«, sagte Sue Atkins scharf am Telefon. Da erst merkte ich,
dass ich weinte.
    »Verzeihung«, sagte ich.
    »Unterstehen Sie sich zu weinen, wenn Sie herkommen«, sagte Mrs.
Atkins. »Diese Familie hat keine Tränen mehr.«
    »Sorg dafür, dass ich nicht weine«, bat ich Elaine an jenem Samstag
kurz vor Weihnachten 1981. Die meisten Leute in der Bahn waren in die
Gegenrichtung unterwegs, um in New York Weihnachtsgeschenke zu besorgen. An
diesem Dezembersamstag waren wir in der Bahn nach Short Hills, New Jersey, fast
allein.
    »Wie soll ich dich denn am Weinen hindern, Billy? Ich [562]  hab
schließlich keine Waffe und kann dich nicht erschießen«, sagte Elaine.
    Bei dem Wort Waffe wurde ich ein wenig
nervös. Elmira, die Pflegerin, die Richard Abbott und ich eingestellt hatten,
damit sie sich um Grandpa Harry kümmerte, beschwerte sich bei Richard permanent
über »die Waffe«. Es war ein Mossberg-Karabiner .30-30, ein
Unterhebelrepetierer – ein kurzläufiges Gewehr von der gleichen Sorte wie das,
mit dem Nils Selbstmord begangen hatte. (Genau weiß ich es nicht mehr, aber
vermutlich hatte Nils ein Winchester oder ein Savage, und es war auch kein
Unterhebelrepetierer; ich weiß nur, dass es auch ein Karabiner .30-30 war.)
    Elmira hatte sich beklagt, dass Grandpa Harry »das verdammte Gewehr
übertrieben viel putzt«; offenbar reinigte Grandpa Harry die Flinte in Nana
Victorias Klamotten – und hinterließ Waffenölflecken darauf. Die mussten dann
immer in die chemische Reinigung, was Elmira nervte. »Er geht gar nicht mehr
raus zum Schießen – keine Hirschjagd mehr auf

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