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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und anderen
bedrohlich wirkenden Sachen. (Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich an die
Heparinlösung – sie diente zum Ausspülen des Hickman-Katheters.) Ich sah, dass
die weißen, käsigen Schichten des Candida-Pilzes Toms Mundwinkel verklebten.
    »Ich habe ihn nicht wiedererkannt, Billy«, sagte Elaine später, auf
der Rückfahrt nach New York. Doch wie erkennt man einen erwachsenen Mann
wieder, der keine fünfundvierzig Kilo mehr wiegt?
    Tom Atkins und ich waren beide 39, doch er glich einem
Mittsechziger; seine Haare (oder was davon übrig war) wirkten durchscheinend
und dünn und auch völlig grau. Seine Augen waren in den Höhlen eingesunken, die
Schläfen tief eingedellt, die Wangen hohl. Toms Nasenlöcher waren fest
zusammengepresst, als könnte er schon seinen eigenen Leichengeruch riechen, und
die straffe, früher so rosige Haut war aschfahl.
    Facies hippocratica lautet der Fachbegriff
für den typischen Gesichtsausdruck Todkranker – jene enganliegende Totenmaske,
die so viele meiner Freunde und Liebhaber, die an Aids starben, eines Tages
tragen würden. Die Haut der Betroffenen war so straff über den Schädel
gespannt, dass es aussah, als müsste sie gleich platzen.
    Ich hielt eine von Toms kalten Händen und Elaine die andere (wobei
meine Freundin sich bemühte, nicht auf den [569]  Hickman-Katheter in Atkins’
nacktem Brustkorb zu starren). In diesem Augenblick hörten wir den trockenen
Husten. Zuerst dachte ich schon, Tom wäre gestorben und sein Husten wäre
irgendwie seinem Körper entwichen. Doch dann fing ich den Blick des Sohnes auf;
Peter kannte dieses Husten und wusste, woher es kam. Der Junge drehte sich zur
offenen Tür um – wo seine Mutter stand und hustete. Der Husten an sich klang
nicht allzu schlimm, doch Sue Atkins konnte ihn nur mit großer Mühe
unterdrücken. Elaine und ich hatten diesen Husten schon früher einmal gehört;
die frühesten Stadien von Pneumocystis-Pneumonie klangen nicht besonders
schlimm. Die Kurzatmigkeit und das Fieber waren oft schlimmer als der Husten.
    »Ja, ich bin auch krank«, sagte Sue Atkins; sie versuchte, nicht zu
husten, und hustete trotzdem in einem fort. »Bei mir ist es noch im
Anfangsstadium«, sagte Mrs. Atkins; sie war unverkennbar kurzatmig.
    »Ich habe sie angesteckt, Bill – so sieht’s aus«, sagte Tom.
    Peter, der so selbstsicher gewesen war, versuchte sich seitlich an
seiner Mutter vorbei in den Flur zu verdrücken.
    »Nein, du bleibst hier, Peter. Du musst hören, was dein Vater Bill
zu sagen hat«, befahl Sue Atkins ihrem Sohn. Der Junge weinte jetzt; er kam
zwar rückwärts ins Zimmer zurück, behielt aber die Tür, vor die sich seine
Mutter postiert hatte, fest im Blick.
    »Ich will nicht bleiben, ich will’s nicht hören…«, fing der Junge an
und schüttelte heftig den Kopf, als wäre das ein probates Mittel, um zu
verhindern, dass er in Tränen ausbrach.
    »Peter – du musst bleiben, du musst zuhören«, sagte Tom [570]  Atkins.
»Wegen Peter wollte ich dich sprechen, Bill«, sagte mir Tom. »Bei Bill sind
noch gewisse Spuren moralischer Verantwortung
erkennbar, nicht wahr, Elaine?«, fragte Tom sie plötzlich. »Bill ist
schließlich Schriftsteller – wenigstens sind in seinen Büchern noch Spuren moralischer Verantwortung erkennbar, stimmt’s? Bill als Person
kenne ich eigentlich nicht mehr«, gab Atkins zu. (Tom konnte nicht mehr als
drei oder vier Worte am Stück sagen, dann musste er wieder Luft holen.)
    »Moralische Verantwortung«, wiederholte ich.
    »Ja, das tut er – Billy übernimmt moralische Verantwortung. Ich
glaube schon«, sagte Elaine. »Und damit meine ich nicht nur in deinen Büchern, Billy«, ergänzte Elaine.
    »Ich muss nicht bleiben, ich kenne das schon«, sagte Sue Atkins
plötzlich. »Sie müssen auch nicht bleiben, Elaine. Wir können versuchen, mit
Emily zu reden. Das ist zwar eine echte Herausforderung, aber mit Frauen kommt
sie in der Regel besser zurecht als mit Männern. Emily hasst Männer.«
    »Emily kreischt fast jedes Mal, wenn sie einen Mann sieht«, erklärte
Peter; er hatte aufgehört zu weinen.
    »Na schön, ich komme mit«, sagte Elaine zu Sue Atkins. »Ich bin auch
nicht gerade versessen auf Männer – aber Frauen kann ich normalerweise nicht
ausstehen.«
    »Das ist interessant«, sagte Mrs. Atkins.
    »Ich komme wieder, wenn es Zeit ist, sich zu verabschieden«, rief
Elaine im Hinausgehen Tom zu, doch Atkins überhörte den Hinweis.
    »Erstaunlich, wie wenig einen die Zeit

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