In einer Person
auf
mindestens so alt, wie meine Tante Muriel gewesen wäre – Ende sechzig. Ich gab
zu, dass ich »der Schriftsteller« war, aber bevor ich sie auf dem Parkplatz
stehen lassen konnte, sagte sie: »Sie waren auf Favorite River, was?«
»Ja, stimmt – Jahrgang 1961«, sagte ich. Jetzt konnte ich sehen, wie
sie mich musterte; natürlich musste sie alles über mich und Miss Frost gehört
haben – wie jeder, der hier lebte und in einem bestimmten Alter war.
»Dann müssen Sie den hier gekannt haben«,
sagte sie und fuhr mit der Hand über den festgeschnallten Leichnam, ohne etwas
zu berühren. »Der wartet nicht nur auf das eine!«, sagte die Pflegerin und
stieß eine gewaltige Wolke Zigarettenrauch aus. Sie trug einen Skianorak und
eine alte Skimütze, aber keine Handschuhe – die hätten beim Rauchen gestört. Es
begann zu schneien, ein paar vereinzelte Flocken, längst nicht genug, um den
Leichnam auf der Bahre zu bedecken.
»Der wartet auf den Lausebengel vom [610] Bestattungsunternehmen, und er wartet in diesem Dingsbums da!«, rief die Pflegerin
aus.
»Meinen Sie im Purgatorium ?«, fragte ich.
»Ja, genau – was ist das überhaupt?«, erkundigte sie sich. » Sie sind der Schriftsteller.«
»Ich glaube nicht ans Purgatorium und alles, was dazugehört –«,
setzte ich an.
»Ich verlang ja nicht von Ihnen, dran zu glauben«, unterbrach sie
mich. »Sie sollen mir nur sagen, was es ist !«
»Ein Zwischenzustand, nach dem Tod –«, wollte ich ihr antworten,
aber sie ließ mich nicht ausreden.
»So wie wenn Gott der Allmächtige hin und her überlegt, ob er diesen
Kerl in die Unterwelt oder ganz nach oben befördert – darum geht’s da doch,
oder?«, fragte mich die Pflegerin.
»So ungefähr«, sagte ich. Ich erinnerte mich nur vage, wozu das Purgatorium
dienen sollte – irgendwas mit Läuterung und Sühne, falls ich mich nicht irrte.
Von der Seele wurde in besagtem Zwischenzustand nach dem Tod erwartet, dass sie
für etwas büßte – jedenfalls nahm ich das an, ohne es
auszusprechen. »Wer ist es?«, fragte ich die alte Pflegerin und fuhr genau wie
sie in sicherer Entfernung mit meiner Hand über den verhüllten Leichnam. Die
Pflegerin sah mich aus zusammengekniffenen Augen an; vielleicht lag es am
Rauch.
»Dr. Harlow – an den erinnern Sie sich doch, oder? Bei dem braucht der Allmächtige nicht besonders lang für seine
Entscheidung!«, sagte sie.
Ich lächelte nur und ließ sie auf dem Parkplatz stehen und weiter
auf den Leichenwagen warten. In meinen [611] Augen konnte Dr. Harlow nie genug büßen; so wie ich es sah, war er schon in der
Unterwelt, wo er hingehörte. Ich hoffte, dass ganz da oben kein Platz für ihn
war – so gnadenlos, wie der meine Beschwerden verdammt hatte.
Herm Hoyt erzählte mir, Dr. Harlow sei nach seiner Pensionierung
nach Florida gezogen. Doch als er erkrankte – an Prostatakrebs, der, wie bei
dieser Krebsart häufig, ins Knochenmark streute –, zog es Dr. Harlow nach First
Sister zurück. Seine letzten Tage wollte er in der Einrichtung für betreutes
Wohnen verbringen. »Ich hab keine Ahnung, warum«, hatte Trainer Hoyt gesagt.
»Keiner hier hat ihn je gemocht.« (Dr. Harlow war mit neunundsiebzig gestorben;
ich hatte den glatzköpfigen Eulenficker fast dreißig Jahre nicht mehr gesehen.)
Aber Herm Hoyt hatte nicht nach mir verlangt, um mir von Dr. Harlow
zu berichten.
»Bestimmt hast du von Miss Frost gehört«, sagte ich zu dem
ehemaligen Ringertrainer. »Geht es ihr gut?«
»Komisch – genau das Gleiche wollte sie von dir wissen, Billy«, sagte Herm.
»Sag ihr, dass es mir gutgeht«, antwortete ich rasch.
»Ich hab sie nie drum gebeten, mir die sexuellen Details zu
schildern – wenn du mich fragst, will ich das alles gar nicht so genau wissen,
Billy«, fuhr der Trainer fort. »Aber sie hat gesagt, dass du eins erfahren
musst – damit du dir keine Sorgen um sie machst.«
»Sag Miss Frost bitte, dass ich ein aktiver Partner bin«, sagte ich
ihm, »und seit 1968 Kondome benutze. Vielleicht macht sie sich weniger Sorgen
um mich, wenn sie das weiß«, fuhr ich fort.
[612] »Mensch – ich bin zu alt für noch mehr Sexdetails, Billy. Lass mich
einfach ausreden!«, verlangte Herm. Er war einundneunzig, knapp ein Jahr älter
als Grandpa Harry, hatte aber Parkinson, und Onkel Bob hatte mir gesagt, dass
der Trainer Probleme mit einer Sorte Tabletten hatte, einem Herzmedikament,
soweit Bob sich erinnerte. (Wegen Parkinson war Trainer Hoyt
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