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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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siebzehn Prozent der reinen Spielzeit auf der
Bühne stand.
    »Was ist mit Miranda?«, fragte Elaine meine Mom, so dass Kittredge,
dem nie etwas entging, es mitbekam.
    »Siebenundzwanzig Prozent«, antwortete meine Mutter.
    »Was ist mit mir?«, fragte ich meine Mom.
    »Ariel ist einunddreißig Prozent der Zeit auf der Bühne«, sagte sie
mir.
    Kittredge spottete über diese demütigende Neuigkeit. »Und Prospero,
unser unvergleichlicher Regisseur… der mit den vielgepriesenen Zauberkräften?«, fragte Kittredge sarkastisch.
    »Vielgepriesenen!«, wiederholte Elaine
Hadley mit Stentorstimme.
    »Prospero ist ungefähr zweiundfünfzig Prozent der Zeit auf der
Bühne«, teilte meine Mutter Kittredge mit.
    »Ungefähr«, wiederholte Kittredge hämisch.
    Richard hatte uns erzählt, Der Sturm sei
Shakespeares »Abschiedsstück«, der Dichter habe sich damit bewusst vom Theater
verabschieden wollen. Doch ich verstand den Sinn des fünften Aufzugs nicht –
und schon gar nicht des angehängten von Prospero gesprochenen Epilogs.
    Vielleicht war es ein kleines Indiz für mich als angehenden
Schriftsteller (wenn auch nicht als angehenden Dramatiker), dass ich fand, Der Sturm hätte mit Prosperos Rede für Ferdinand und
Miranda enden sollen – mit der »Das-Fest-ist-jetzt-zu-Ende«-Rede in der 1.
Szene des 4. Aufzugs. Und ganz bestimmt hätte Prospero seinen Monolog (und das
Stück) mit diesen herrlichen Worten enden sollen: [138]  »Wir sind vom Stoff, / Aus
dem die Träume sind; und unser kleines Leben / Ist eingebettet in einen langen
Schlaf.« Weshalb muss Prospero mehr sagen? (Etwa, weil er sich trotz allem für Caliban verantwortlich fühlt?)
    Doch als ich diese Überlegungen Richard gegenüber äußerte, sagte der
nur: »Mein lieber Bill – wenn du mit siebzehn Shakespeare umschreibst, erwarte
ich noch Großes von dir!« Ich war gekränkt, denn Richard hatte sich noch nie
über mich lustig gemacht.
    »He, Umschreiber !«, rief Kittredge, der
Zeuge unserer Unterhaltung gewesen war, mir voller Schadenfreude quer über den
ganzen Innenhof des Schülerwohnheims hinweg zu. Aber dieser Spitzname setzte
sich nicht durch; Kittredge benutzte ihn nie wieder und blieb bei »Nymphe«. Mir
wäre Umschreiber lieber gewesen; wenigstens passte es zu der Sorte
Schriftsteller, der ich später einmal werden würde.
    Doch ich bin vom Thema abgekommen, bin abgeschweift, was ebenfalls
zu der Sorte Schriftsteller passt, der ich einmal werden würde. Also: Caliban
ist fündundzwanzig Prozent der Zeit auf der Bühne. (Die Schätzung meiner Mutter
basierte nie auf dem gesprochenen Text, sondern auf der von den Figuren auf der
Bühne verbrachten Zeit.) Es war zwar meine allererste Erfahrung mit Der Sturm, doch so viele Aufführungen des Stückes ich
inzwischen auch gesehen habe, den Caliban halte ich auch heute noch für eine
zutiefst verstörende Figur; als Schriftsteller würde ich ihn als eine
»ungeklärte« Figur bezeichnen. Daran, wie grob Prospero mit ihm umspringt,
erkennen wir, wie unversöhnlich er Caliban gegenüber ist, doch ich frage mich, [139]  welche
Gefühle Shakespeare bei uns für das Ungeheuer wecken will. Mitleid vielleicht –
möglicherweise auch leichte Schuldgefühle.
    Im Herbst 1959 wusste ich nicht genau, was Richard Abbott von
Caliban hielt; dass Richard das Ungeheuer mit Grandpa Harry besetzt hatte,
machte die Sache auch nicht klarer. Harry hatte auf der Bühne noch nie einen Mann verkörpert; dass Caliban kein richtiger
Mensch war, wurde durch Grandpa Harrys beharrlich weibliche Darstellung nur noch unterstrichen. Caliban mochte zwar Miranda begehrt haben –
wir wissen, dass das Monster versucht hatte, sie zu vergewaltigen ! –, doch obwohl Harry Marshall als Bösewicht besetzt war, wirkte er auf der
Bühne fast nie unsympathisch, aber auch nie besonders männlich.
    Vielleicht war Richard aufgefallen, dass Caliban ein verwirrendes
Monster war, und Richard wusste, dass Grandpa Harry die Verwirrung garantiert
noch vergrößern konnte. »Dein Großvater ist echt schräg«, hatte Kittredge mir
ohne Umschweife eröffnet. (»Königin Lear«, so nannte Kittredge ihn.)
    Sogar ich musste zugeben, dass Harry noch nie so schräg gewesen war
wie in der Rolle des Caliban; Grandpa Harry spielte eine vom Geschlecht her
nicht festgelegte Figur – er gab den Caliban als androgyne Vettel.
    Die Perücke (Grandpa Harry war kahl) hätte zu jedem Geschlecht
gepasst. Das Kostüm wäre für eine exzentrische Stadtstreicherin passend

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