In einer Person
mit den Jahrbüchern in der Academy-Bibliothek arbeitete
gelegentlich ein Lehrer oder eine Lehrerin, und es gab keine Tür, die man hätte
schließen können; man hätte unsere Stimmen auch sonst im Gebäude gehört.
(Elaine und ich befürchteten, in dem viel kleineren Gebäude der Stadtbücherei
würde man uns überall hören können.)
[143] »Wir haben uns gefragt, ob es hier vielleicht einen Raum gibt, in
dem wir ungestört wären«, erklärte ich Miss Frost.
»Einen Raum, in dem ihr ungestört wärt«,
wiederholte die Bibliothekarin.
»Wo man uns nicht hören könnte«, sagte Elaine mit ihrer Stentorstimme.
»Wir wollen unsere Rollen proben, ohne jemanden zu stören!«, ergänzte sie
rasch, damit Miss Frost nicht auf den Gedanken käme, wir suchten ein
schalldichtes Asyl für Elaines obenerwähnten ersten Orgasmus.
Miss Frost sah mich an. »Ihr wollt in einer Bibliothek proben «, sagte sie, als passe das nahtlos zu meinem
früheren Wunsch, in einer Bibliothek zu schreiben. Doch meinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, behielt Miss Frost für sich.
(Diesbezüglich hatte ich mich meiner guten Freundin Elaine gegenüber noch nicht
offenbart; meinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, und meine anderen Wünsche und Begierden hielt ich vor Elaine noch
geheim.)
»Wir können versuchen, leise zu proben«,
sagte Elaine mit für ihre Verhältnisse ungewöhnlich leiser Stimme.
»Nein, nein, Liebes – ihr müsst euren Text so proben, wie er auf der
Bühne gesprochen wird«, widersprach Miss Frost und tätschelte mit ihrer viel
größeren Hand die von Elaine. »Ich glaube, ich weiß, wo ihr schreien könntet, ohne gehört zu werden.« Wie sich herausstellte, war die Vorstellung,
dass es in der Stadtbücherei von First Sister einen Raum gab, wo man ungehört
schreien konnte, ein ebenso großes Wunder wie der Raum selbst.
Miss Frost brachte Elaine und mich die Kellertreppe hinunter in den
(wie es schien) Heizungskeller der alten Bibliothek. Die First Sister Library
war in einem [144] Backsteingebäude aus dem frühen 19. Jahrhundert untergebracht,
und der erste Heizkessel des Hauses war noch mit Kohle betrieben worden; die
verrußten Reste der Kohlenrutsche hingen noch immer von dem Sprossenfenster.
Doch man hatte den riesigen Kohlebrenner auf die Seite gekippt, in eine
unbenutzte Kellerecke geschleift und durch einen moderneren Ölofen ersetzt.
Neben dem Ölbrenner stand ein neu aussehender, propanbetriebener Warmwasserboiler,
und in der Nähe des Sprossenfensters hatte man einen separaten Raum (mit Tür)
eingerichtet. In eine Wand dieses Raumes (in der Nähe der Kellerdecke, wo noch
die Reste der Kohlenrutsche von dem einzigen Fenster baumelten) war eine
rechteckige Lücke gehauen worden. Früher einmal hatte die Kohlenrutsche von dem
Fenster aus in den Raum – den ehemaligen Kohlenverschlag – geführt. Jetzt war
es ein möbliertes Schlafzimmer mit Bad.
Darin stand ein altmodisches Messingbett mit Messingstäben (so
stabil wie Gitterstäbe im Knast) am Kopfende; daran war eine Leselampe
befestigt. In einer Zimmerecke war ein kleines Waschbecken samt Spiegel
angebracht, und in einer anderen stand, ganz offen, eine Toilette mit
Holzbrille. Neben dem Bett war ein Nachttisch und darauf ein ordentlicher
Stapel Bücher und eine dicke Duftkerze. (Im Zimmer roch es nach Zimt;
vermutlich sollte die Kerze den Ölgeruch von dem Heizkessel nebenan
überdecken.)
Außerdem gab es einen offenen Kleiderschrank mit ein paar
Regalbrettern und Kleiderbügeln und, wie es schien, einer sehr kleinen Auswahl
von Miss Frosts Anziehsachen. Fraglos das Herzstück des Zimmerchens – »mein
umgebauter Kohlenverschlag«, wie Miss Frost es nannte – war [145] eine opulente
viktorianische Badewanne mit deutlich sichtbaren Rohrleitungen. (Der Boden des
Zimmers bestand aus unlackierten Sperrholzbrettern, und auch die Stromkabel
lagen über Putz.)
»Wenn es einen Schneesturm gibt und ich nicht mehr nach Hause fahren
oder gehen mag«, sagte Miss Frost, als erkläre das, warum der Kellerraum
gleichzeitig gemütlich und spartanisch wirkte. (Weder Elaine noch ich wussten,
wo Miss Frost wohnte, begriffen aber, dass ihr Zuhause von der Stadtbücherei
aus zu Fuß erreichbar war.)
Elaine war ganz gebannt von der Badewanne, die Löwenklauen als Füße
und Löwenköpfe als Wasserhähne hatte. Ich war zugegebenermaßen fasziniert von
dem Messingbett mit den Gefängnisgitterstäben am Kopfende.
»Leider gibt es außer dem Bett keine
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