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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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genießen. Wenn ich, wie an den meisten Abenden, zu beiden Zeiten
bediente, kam ich nach Beginn des ersten Akts in die Oper und ging vor Ende des
letzten.
    Eines Abends sprach Esmeralda mich in einer Pause an. Ich muss wie
ein Amerikaner ausgesehen haben, was mich zutiefst kränkte, denn sie redete
englisch mit mir.
    »Was ist bloß los mit Ihnen?«, fragte sie mich. »Sie kommen immer zu
spät und gehen immer vor Schluss!« (Sie war eindeutig Amerikanerin; wie sich
herausstellte, aus Ohio.)
    »Ich hab einen Job – als Kellner«, sagte ich ihr. »Und was ist mit Ihnen ? Wieso machen Sie sich dauernd Notizen? [209]  Wollen Sie
Schriftstellerin werden? Das versuche ich nämlich«,
gestand ich ihr.
    »Ich bin bloß die Zweitbesetzung – ich möchte Sopranistin werden«,
sagte Esmeralda. »Und Sie versuchen Schriftsteller zu werden«, wiederholte sie
langsam. (Sofort fühlte ich mich zu ihr hingezogen.)
    Eines Abends, als ich nicht die Spätschicht im Zufall hatte, blieb
ich bis zum letzten Vorhang in der Oper und bot Esmeralda an, sie nach Hause zu
begleiten.
    »Aber ich will nicht nach Hause – da gefällt es mir nicht. Ich halte
mich so wenig wie möglich dort auf«, sagte Esmeralda.
    »Oh!«
    Mir gefiel meine Unterkunft in Wien genauso wenig – ich war auch
nicht oft zu Hause. Aber weil ich an den meisten Abenden in dem Restaurant in
der Weihburggasse arbeitete, kannte ich mich überhaupt noch nicht mit dem
Wiener Nachtleben aus.
    Ich führte Esmeralda in das schwule Kaffeehaus in der Dorotheergasse
unweit der Staatsoper. Bisher war ich nur tagsüber dort gewesen, wenn es
hauptsächlich von Studenten besucht wurde – und von Studentinnen. Ich wusste
noch nicht, dass die Käfig-Kundschaft spätabends rein männlich und schwul war.
    Esmeralda und ich entdeckten meinen Irrtum sehr schnell. »Tagsüber
ist es hier ganz anders«, versicherte ich ihr, als wir sofort wieder
hinausgingen. (Gott sei Dank war Larry an dem Abend nicht da; ich hatte meine
Bitte wegen eines Schreibseminars schon vorgetragen, wartete aber noch auf
seine Entscheidung.)
    [210]  Esmeralda lachte mich aus, weil ich sie ins Café Käfig ausgeführt
hatte – »Bei unserer ersten Verabredung!«, rief sie, während wir den Graben in
Richtung Kohlmarkt hochgingen. Am Kohlmarkt lag ein Kaffeehaus, das ich noch
nicht besucht hatte; aber es sah teuer aus.
    »In meiner Nachbarschaft gibt’s ein nettes Lokal«, sagte Esmeralda.
»Gehen wir doch dorthin, und danach kannst du mich ja
nach Hause bringen.«
    Zu unser beider Überraschung wohnten wir im selben Viertel –
jenseits der Ringstraße, nicht mehr im ersten Bezirk, in der Nähe der
Karlskirche. An der Ecke Argentinierstraße und Schwindgasse lag ein Kaffeehaus,
wie es in Wien so viele gibt: Café und Kneipe zugleich; es war auch mein
Stammlokal, verriet ich Esmeralda, als wir uns setzten. (Ich kam oft zum
Schreiben hierher.)
    Und so fingen wir damit an, uns gegenseitig unsere misslichen
Wohnverhältnisse zu schildern. Wie sich herausstellte, wohnten wir beide in der
Schwindgasse, noch dazu im selben Gebäude. Esmeraldas Unterkunft ähnelte eher
einer richtigen Wohnung als meine. Sie hatte ein Zimmer mit eigenem Bad und
Mini-Küche, teilte aber den Flur mit ihrer Vermieterin; jeden Abend, wenn
Esmeralda »nach Hause« kam, musste sie am Wohnzimmer ihrer Vermieterin vorbei,
wo die alte mäkelige Frau mit ihrem kleinen hässlichen Hündchen auf dem Sofa
thronte. (Sie sahen immer fern.)
    Der Fernseher plärrte bis in Esmeraldas Zimmer hinüber, wo sie sich
auf einem alten Plattenspieler Opern (meist auf Deutsch) anhörte. Sie durfte
ihre Musik nur leise hören, aber »leise« passt nun mal nicht zu Opern. Die
Opern waren laut genug, um den Fernseher der Vermieterin zu [211]  übertönen, und
Esmeralda hörte sich unermüdlich das Deutsch an und sang vor sich hin – aber
ebenfalls nur leise. Sie müsse an ihrer deutschen Aussprache arbeiten, hatte
sie mir gesagt.
    Ich dagegen musste meine deutsche Grammatik und Wortstellung
verbessern – von meinem Wortschatz ganz zu schweigen – und sah sofort, wie
Esmeralda und ich uns gegenseitig helfen konnten. Meine Aussprache war das
Einzige an meinem Deutsch, was ich Esmeralda voraushatte.
    Meine Kollegen im Restaurant Zufall hatten versucht, mich zu warnen:
Wenn der Herbst vorbei war und die Touristen wegblieben, würde sich an manchen
Abenden kein einziger englischsprachiger Gast im Restaurant blicken lassen –
darum sollte ich möglichst schnell Deutsch

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