In einer Person
viele Beziehungen mit Männern. Im März 1963, kurz bevor ich erfuhr, dass
ich einen Platz am Institut für Europäische Studien in Wien bekommen hatte,
hatte ich mein »Coming-out« bereits hinter mir. Als ich nach Wien ging, hatte
ich die zurückliegenden beiden Jahre als junger Schwuler in New York gelebt.
[206] Was nicht daran lag, dass Frauen mich
nicht anzogen; sie zogen mich an. Aber dieser Anziehung
nachzugeben wäre mir wie eine Art Rückfall in mein früheres Leben als
unterdrückter schwuler Junge vorgekommen. Ganz zu schweigen davon, dass meine
schwulen Freunde und Liebhaber damals alle dachten, jeder Mann, der von sich
behauptete, bisexuell zu sein, wäre eigentlich nur ein verkappter Schwuler.
Und doch wusste ich, dass ich bisexuell war – so sicher, wie ich
gewusst hatte, dass und wie sehr ich mich zu Kittredge hingezogen fühlte. Aber
als ich so um die zwanzig war, hielt ich mich mit meinen Gefühlen für Frauen
zurück – wie zuvor mit meinen Gefühlen für andere Jungs und Männer. Selbst in
so jungen Jahren muss ich gespürt haben, dass man bisexuellen Männern nicht
traute; vielleicht wird sich das ja mal ändern, aber damals traute man uns
definitiv nicht über den Weg.
Ich habe mich nie meiner Gefühle für Frauen geschämt, aber als ich
in New York meine ersten schwulen Liebhaber hatte, merkte ich rasch, dass mir
meine schwulen Freunde aufgrund meiner Frauenbekanntschaften misstrauten. Also
behielt ich diese für mich und beschränkte mich darauf, Frauen nur anzusehen.
(Im Sommer 1961, als ich mit ihm auf Europareise war, hatte der arme Tom mich
beim Hingucken ertappt.)
Wir waren ein überschaubares Grüppchen: die amerikanischen
Studenten, die im akademischen Jahr 1963/64 einen Platz am Institut für
Europäische Studien in Wien bekommen hatten. Im Hafen von New York gingen wir
an Bord [207] eines Dampfers und überquerten den Atlantik – genau wie Tom und ich
zwei Sommer zuvor. Ich kam rasch zu dem Schluss, dass in jenem Jahrgang keine
Schwulen unter meinen Kommilitonen waren, jedenfalls keine offen schwulen –
oder keiner, der mich in dieser Hinsicht interessierte.
Mit dem Bus fuhren wir durch Westeuropa bis nach Wien – und stillten
unseren Bildungshunger in den knapp bemessenen zwei Wochen mit weit mehr
Sehenswürdigkeiten, als Tom und ich in einem ganzen Sommer untergebracht
hatten. Ich kannte keinen meiner Kommilitonen von früher. Mit einigen schloss
ich Freundschaft, allesamt Heteros, jedenfalls nach meinem Eindruck. Ein paar
junge Frauen fand ich interessant, doch schon vor unserer Ankunft in Wien kam
ich zu dem Schluss, dass die Gruppe viel zu klein war; es wäre wirklich unklug
gewesen, mit einer vom Institut etwas anzufangen. Außerdem hatte ich bereits
die Legende verbreitet, ich würde mir »Mühe geben«, meiner Freundin daheim in
den Staaten »die Treue zu halten«. Bei meinen Kommilitonen hatte ich
erfolgreich den Eindruck erweckt, ein Hetero zu sein, der offenbar gern für
sich blieb.
Als ich den Job als einziger englischsprachiger Kellner im Café
Zufall in der Weihburggasse bekam, setzte ich mich ganz vom Institut für
Europäische Studien ab – das Restaurant war zu teuer, als dass meine
Kommilitonen je dort essen gingen. Abgesehen von meinen Seminarbesuchen am Doktor-Karl-Lueger-Platz
konnte ich die abenteuerliche Rolle des jungen Schriftstellers weiterspielen.
Die allerwichtigste Übung dabei war, Zeit zum Alleinsein zu finden.
[208] Esmeralda bin ich überhaupt nur durch puren Zufall begegnet. Sie
war mir in der Oper aufgefallen; zum einen wegen ihrer Größe (große,
breitschultrige Frauen jeden Alters zogen mich an), zum anderen, weil sie sich
Notizen machte. Sie stand ganz hinten im Zuschauerraum und kritzelte wie wild
in ihr Notizheft. Am ersten Abend, an dem ich sie sah, hielt ich sie
fälschlicherweise für eine Musikkritikerin; obwohl sie nur drei Jahre älter war
als ich (im Herbst 1963 war Esmeralda vierundzwanzig), sah sie wesentlich älter
aus.
Als ich sie dann öfter sah – immer am selben Platz ganz hinten im
Zuschauerraum –, ging mir auf, dass sie als Musikkritikerin eigentlich einen
Sitzplatz haben müsste. Aber sie hatte wie ich nur einen Stehplatz. Damals
bekamen Studenten freie Stehplätze.
Vom Restaurant Zufall war es nur ein Katzensprung zur Oper an der
Kreuzung von Kärtnerstraße und Opernring. An Opernabenden konnte man im Zufall
entweder ein frühes Abendessen vor der Oper oder ein spätes, extravaganteres
Souper danach
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