In einer Person
lernen, denn die Österreicher waren
bekannt dafür, dass sie nicht so nett zu Ausländern waren. In Wien wurde das
Wort »Ausländer« nie mit freundlichem Unterton ausgesprochen; die Wiener hatten
etwas regelrecht Fremdenfeindliches.
In dem Kaffeehaus an der Argentinierstraße ging ich dazu über,
Esmeralda meine Wohnsituation zu schildern – auf Deutsch. Wir hatten schon
beschlossen, deutsch miteinander zu reden.
Esmeralda hatte zwar einen spanischen Namen – auf Spanisch bedeutete
er »Smaragd« –, sie sprach aber kein Spanisch. Ihre Mutter war Italienerin, und
Esmeralda sprach (und sang) italienisch, aber wenn sie Opernsängerin werden
wollte, musste sie ihre deutsche Aussprache verbessern. Sie sagte, in der
Staatsoper würde darüber gewitzelt, dass sie die Zweitbesetzung der Sopranistin
war – eine [212] »Soprananwärterin«, wie sie sich selbst bezeichnete. Falls sie
sie in Wien je auf die Bühne ließen, dann nur, wenn die reguläre Sopranistin –
die »Nummer eins«, wie Esmeralda sie nannte – starb. (Oder
wenn die Oper auf Italienisch gesungen wurde.)
Selbst als sie mir das in grammatikalisch einwandfreiem Deutsch
auseinandersetzte, hörte ich Cleveland-Spuren aus ihrem Akzent heraus. In einer
Grundschule in Cleveland hatte eine Musiklehrerin Esmeraldas Gesangstalent
erkannt; Esmeralda war mit einem Stipendium auf das Oberlin-Konservatorium
gekommen. Ihr Studienjahr im Ausland hatte Esmeralda in Mailand verbracht; sie
hatte ein Praktikum an der Scala absolviert und sich in die italienische Oper
verliebt.
Deutsch, sagte sie, fühle sich in ihrem Mund wie Sägespäne an. Ihr
Vater hatte sie und ihre Mutter sitzenlassen, sich nach Argentinien abgesetzt
und sich dort mit einer anderen Frau zusammengetan. Esmeralda war zu dem
Schluss gekommen, dass die Frau, an die ihr Vater in Argentinien geraten war,
Nazivorfahren haben musste.
»Woran sonst könnte es liegen, dass ich die Aussprache so schlecht
hinkriege?«, fragte sie mich. »Ich hab Deutsch geübt, bis es mir zu den Ohren
rauskam!«
Ich denke immer noch daran, was Esmeralda und mich wohl zueinander
hinzog: Wir hatten beide Väter, die durchgebrannt waren, wir wohnten im selben
Haus in der Schwindgasse und redeten über all das in unserem mangelhaften
Deutsch in einem Kaffeehaus an der Argentinierstraße.
Die Studenten des Instituts waren auf ganz Wien verteilt. [213] Es war
üblich, in Untermiete mit eigenem Zimmer, aber Gemeinschaftsbad zu wohnen. Die
Mehrzahl meiner Kommilitonen wohnten zur Untermiete bei irgendwelchen Witwen,
deren Küche sie nicht nutzen durften. Meine Vermieterin war ebenfalls Witwe,
und ich musste das Bad mit ihrer geschiedenen Tochter und deren fünfjährigem
Sohn Siegfried teilen. In der von vier Leuten benutzten Küche herrschte ständig
Chaos, aber ich durfte mir dort immerhin selbst Kaffee kochen und einige
Flaschen Bier in den Kühlschrank stellen.
Meine Vermieterin weinte regelmäßig; Tag und Nacht schlurfte sie in
einem ausgefransten karierten Frotteebademantel herum. Ihre Tochter war eine
großbusige Frau von der herrschsüchtigen Sorte; sie konnte nichts dafür, dass
sie mich an meine Tante Muriel erinnerte. Der fünfjährige Siegfried starrte
mich ständig auf heimtückische Art an; jeden Morgen verputzte er zum Frühstück
ein weichgekochtes Ei – mitsamt Schale.
Als ich Siegfried zum ersten Mal dabei beobachtete, ging ich
schnurstracks in mein Zimmer und schlug in meinem Wörterbuch das deutsche Wort
für »Eierschale« nach. Als ich Siegfrieds Mutter sagte, dass ihr Sohn die
Schale mit verspeist hatte, antwortete sie achselzuckend, die sei
wahrscheinlich gesünder für ihn als das Ei. Morgens beim Frühstück saß sie
meist in einem schlabberigen Männerschlafanzug da, der wohl von ihrem Exmann
stammte und bei dem immer ein paar Knöpfe zu viel offen waren; außerdem hatte
sie die unschöne Angewohnheit, sich zu kratzen.
Merkwürdigerweise hatte unser Gemeinschaftsbad einen Türspion, wie
man sie häufig bei Hotelzimmertüren, [214] aber nicht bei Badezimmertüren sieht.
Erst dachte ich, der Spion sei dazu da, dass man vor dem Verlassen des Bads
sehen konnte, ob im Flur die Luft rein war. Doch wer lief schon gern halbnackt
oder in ein Handtuch gewickelt im Flur herum, egal, ob die Luft rein war oder
nicht?
Als ob das nicht schon rätselhaft genug gewesen wäre, ließ sich der
Türspion auch noch mittels einer kuriosen Vorrichtung umdrehen. Mir fiel auf,
dass das Guckloch häufig oder sogar
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