In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
nicht angerufen, um das Treffen abzusagen, und so mußte Graham unfreiwillig einer winzigen weinenden Frau kondolieren. Jetzt war er in der Sargausstellung. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren hatte sich Graham noch nicht viele bedanken über den Tod gemacht, nicht einmal seit Jamie MacDonalds Fall. Der Tod war etwas, das einem widerfuhr, wenn man viel älter und lebenssatt war. Er hatte nie mit dem Gedanken gespielt, sich ein Grab auf dem Friedhof reservieren zu lassen; es entzog sich sogar seiner Kenntnis, daß es Särge in verschiedenen Formen, Größen und Farben gab, die den Verblichenen ebenso individuell angepaßt wurden wie die Kleider auf ihrem letzten Weg.
»Mr. Huntley«, begann Graham, »ich versuche zur Zeit, mir ein genaueres Bild von den Ereignissen zu machen, die zu Maggie MacDonalds Tod geführt haben. Unter anderem erfuhr ich, daß Sie den Obduktionsbericht für die Staatsanwaltschaft erstellten.«
»Ah«, sagte Hugo und lehnte sich an einen Sarg, »ich teile Ihnen gerne alles mit, was ich weiß.«
Graham atmete erleichtert auf: ein Zeuge der Anklage, der im Kreuzverhör mit ihm kooperieren würde. »Was können Sie mir über Maggie MacDonalds Todesursache berichten?«
Hugo spitzte die Lippen und schob sich die Brille höher auf die Nase. »Um es laienhaft auszudrücken, sie wurde erstickt. War wahrscheinlich seit fünf oder sechs Stunden tot, als ich sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Ziemlich sicher hat er ein Kissen verwendet; auf ihren Lippen und in ihren Haaren waren Fasern, die mit den Befunden aus dem Polizeilabor übereinstimmten – obwohl das auch heißen könnte, daß sie gern auf dem Bauch schlief …«
»Noch etwas?«
Nebenan war das laute Schluchzen der Trauernden zu hören. »Sie wissen natürlich, daß sie an Krebs im fortgeschrittenen Stadium litt.«
Graham nickte. »Ich werde mich in ein paar Tagen mit ihrem Arzt unterhalten. Aber Sie haben herausgefunden …?« Er ließ die Frage unvollendet.
»… daß eine Totalamputation der Brust wie auch der Lymphknoten vorgenommen wurde. Es gab Hinweise auf eine Strahlenbehandlung wegen eines Tumors, der den Sehnerv schädigte. Knochenläsionen im gesamten Körper, die vor längerer Zeit eingesetzt hatten.« Er zuckte mit den Achseln und blickte auf. »Sie war nicht gerade in guter Verfassung.«
»In Ihrem Bericht erwähnten Sie Hautpartikel unter ihren Fingernägeln.«
»Die stammen von ihrem Ehemann«, sagte Hugo. »Doch wie ich bereits Miss Campbell erklärt habe, muß das meiner Meinung nach nicht unbedingt auf einen Kampf deuten. Es gab keine anderweitigen Hinweise darauf – keine Prellungen oder Zerrungen, und soweit ich gehört habe, war das Zimmer auch ziemlich aufgeräumt, obwohl man das natürlich hätte säubern können, nachdem …« Er lächelte reuig. »Wenn man in meiner Branche arbeitet, Mr. MacPhee, entwickelt man irgendwann einen sechsten Sinn für bestimmte Dinge. Ich bin kein Experte in Detektivarbeit oder Herzensangelegenheiten; aber mich verbindet etwas mit den Menschen, die ich für eine Beerdigung vorbereite. Ich hätte erkennen können, wenn Maggie sich gegen ihn gewehrt hätte. Menschen, die erschossen oder erstochen wurden, sterben immer mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen, und der Mund steht ihnen offen wie bei einem Schrei. Maggie hat ausgesehen, als wäre sie einfach eingeschlafen.«
»Na ja«, Graham rang sich ein Lächeln ab, »das ist ja schon mal was.« Er merkte, daß er sich auf den Fuß eines Mahagonisarges gesetzt hatte, und sprang auf.
Graham fiel wieder ein, daß Maggies Sarg geschlossen gewesen war, weiß und rein. Er fragte sich, ob Jamie ihn ausgesucht hatte, nachdem man ihn gegen Kaution freisetzte. Auf welche Weise würde er persönlich so eine Aufgabe anpacken? Ging man dabei ganz systematisch vor, so, als ob man sich für einen Küchenschrank oder eine Hausfarbe entscheiden müßte: der Sandfarbene hier, nein, der Schwarze mit der goldenen Borte? Wie sollte man etwas aussuchen, in das man die Hälfte des eigenen Herzens legen mußte, um sie zu Grabe zu tragen?
Angus hatte drei volle Tage damit zugebracht, mit jener Zweigstelle des Scottish National Trust Verbindung aufzunehmen, die für Carrymuir zuständig war, und den Angestellten zu überzeugen, daß er tatsächlich der ehemalige Aufseher des Anwesens war. Doch eine Woche später präsentierte er Allie ein Päckchen mit dem Stempel eines internationalen Übernacht-Luftfrachtdienstes. »Du wirs mir nie für die Mühe
Weitere Kostenlose Bücher