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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Kaliber. Nina kann ihrer Tochter nicht so viel Geld für Vergnügungen geben wie andere. Deshalb fühlt sich Shenja benachteiligt, obwohl sie hübscher ist als die meisten ihrer Freundinnen.
    Endlich hatte Nina die Kassette gefunden. Solowjow erkannte den Clip sofort, er lief dauernd im Fernsehen.
     
    Die Lippen rot geschminkt, die Augen kindlich rein.
    Warum willst du schon erwachsen sein?,
     
    sang Valeri Katschalow, die Vokale dehnend wie süßen Kaugummi.
    Ein entzückendes dünnes Mädchen von höchstens elf Jahren drehte sich vorm Spiegel, malte sich Augen und Lippen an, schlüpfte in Mamas Kleider, skatete durch einen Park, machte eine große Kaugummiblase und saß im Kino neben einem Jungen, der den Arm um sie legte.
     
    Popcorn im Kino und Kekse mit Zuckerguss,
    Nichts ist so geil wie ein Zungenkuss.
     
    Das Mädchen hatte glattes, hüftlanges blondes Haar und große blaue Augen. Hin und wieder kam Katschalow mit Gitarre ins Bild: auf einer Parkbank, am Fenster der Schule, rittlings auf dem Ast einer alten Linde. Ein weiser, liebender Vater, verständnisvoll und ein wenig lächerlich. Der Inbegriff des Mädchentraums von einem echten Mann. Wenn das Mädchen Unannehmlichkeiten hat (eine böse Lehrerin schickt es aus dem Klassenraum, der angebetete Junge sitzt mit einer anderen im Café), schickt Papa eine SMS: »Sei nicht traurig, Kätzchen, alles wird gut!«, und sie liest sie und lächelt unter Tränen. Am Ende des Clips gehen der Sänger und das Mädchen Arm in Arm die Allee eines blühenden Parks entlang, unterhalten sich lebhaft und lachen.
    »Manchmal wird sie auf der Straße erkannt«, raunte Nina, als das Video zu Ende war. »Obwohl sie im Clip eine Perücke trägt und auf ganz jung geschminkt ist.«
    Solowjow nickte. »Ja, das ist mir aufgefallen.«
    »Das ist sein bester Clip.« Nina zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch gegen den erloschenen Bildschirm. »Das heißt, eigentlich ihrer, den hat sich Shenja ganz allein ausgedacht. Er hat damit gar nichts zu tun. Valeri Katschalow ist total unbegabt. Kein Gehör, keine Stimme. Auf der Bühne lässt sich das manchmal durch Sinnlichkeit und Charme kompensieren, aber auch das hat er nicht.«
    »Was hat er dann?«, fragte Solowjow.
    »Eine irrsinnige Hartnäckigkeit. Selbstbewusstsein. Und Beziehungen. Entschuldigen Sie, ich muss einkaufen gehen, wir brauchen Äpfel, Salat und Nüsse. Shenja kommt gleich nach Hause, und es ist nichts zu essen da.«
    Solowjow hatte schon verschiedene Reaktionen auf den Tod erlebt. Ninas Verhalten grenzte an geistige Verwirrung.
    Sie hatte Shenja gesehen, hatte sie identifiziert, ihre Sachen erkannt und alle nötigen Papiere unterschrieben. Für sie war Valeri Katschalow schuld am Tod ihrer Tochter, direkt oder indirekt. Aber an deren Tod selbst glaubte sie nicht.
    »Gehen wir rüber ins Zimmer, ich muss dort ein bisschen aufräumen«, sagte Nina und erhob sich schwerfällig von ihrem Küchenhocker.
    »Kennen Sie jemanden von Shenjas Freunden?«, fragte Solowjow und sah zu, wie sie Sachen in den Schrank legte.
    »Wie gesagt, Shenja geniert sich, sie nach Hause einzuladen. Außerdem sind das gar keine richtigen Freunde. Klassenkameraden, Jungs aus der Disko und aus Nachtklubs. Hin und wieder war die Beziehung etwas enger, aber nie lange. Sie findet leicht Kontakt und trennt sich noch leichter wieder. Die Einzigen, die sie wirklich liebt, sind ich und er.« Nina nickte zu dem gerahmten Foto hinüber.
    Solowjow nahm es in die Hand und las auf der Rückseite: »Mein Papa ist der Schönste und Begabteste!« Mit buntem Filzstift auf graue Pappe geschrieben. Die Büroklammern, die Foto und Pappe zusammenhielten, waren schon ziemlich ausgeleiert. Zwischen Foto und Pappe entdeckte Solowjow vier 100-Euro-Scheine.
    Müssen wir etwa noch eine zweite Durchsuchung vornehmen, überlegte er und schaute sich im Zimmer um.
    Ein zweites Geheimfach fand sich in einer bunten Kosmetiktasche. Zwischen aufgetrenntem und sorgfältig wieder angenähtem Futter hatte Shenja fünf Hunderterscheine versteckt. Weitere fünfhundert Euro steckten in den Hosentaschen einer großen Stoffpuppe.
    Nina betrachtete das Geld schweigend, die Hand auf den Mund gepresst. Im Flur klapperte ein Schlüssel im Schloss.
    »Nina, bist du zu Hause?«, fragte ein voller Frauenbass.
    »Ja«, antwortete Nina und setzte etwas leiser hinzu: »Das ist Maja, meine Freundin. Sie hat einen Schlüssel.«
    Gleich darauf kam eine große, kräftige Frau im Jeansoverall

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