In ewiger Nacht
die Frau, während sie Ika weiter musterte.
»Wieso?«
»Du bist so dünn. Na, egal. Wie heißt du?«
»Gib mir den Ausweis und verschwinde mitsamt deinem Gorilla!« Ikas Schreien klang kläglich und wenig überzeugend.
»Wie du heißt?«, wiederholte die Frau ruhig.
»Irina.«
»Und weiter?«
»Leck mich!«
Die Frau schüttelte tadelnd den Kopf, hob Ikas offene Taschevom Boden auf, kippte sie aus, griff nach dem Ausweis, schlug ihn auf und las vor.
»Irina Drosdowa. Geboren in Bykowo, Gebiet Moskau. Nicht verheiratet, keine Kinder. Du bist ja gar nicht hier gemeldet, Kleine. Sondern in Bykowo. Da hättest du schön bleiben sollen. Was willst du in Moskau, he?« Sie warf den Ausweis auf den Couchtisch. »Was treibst du so?«
Ika hielt mühsam die Tränen zurück. Sie hasste Mark dafür, dass er sie einfach allein gelassen hatte, ohne ihr etwas von möglichen Problemen zu sagen. Er hatte nur erklärt: »Ich verschwinde für ein paar Tage. Wir haben bald jede Menge Kohle, davon kaufen wir uns eine neue, große Wohnung, fahren auf die Kanaren, und überhaupt wird alles super!«
Sie hatte sich gewundert, dass er weder Geld noch Papiere mitnahm, auch kein Handy, und alte Sachen angezogen hatte.
»He, warum sagst du nichts? Antworte, wenn du gefragt wirst«, meldete sich die Frau.
»Ich bin Schauspielerin«, sagte Ika.
Die Blonde lachte wieder. Diesmal besonders lange und fröhlich.
»Schauspielerin! Hörst du, Wowa? Oje, ich kann nicht mehr!« Die Frau wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich. »Na schön, Kleine. Ich gehe jetzt, aber Wowa bleibt hier. Du musst schon entschuldigen, aber wir müssen unbedingt auf Mark warten. Bis bald!«
Sie ging rasch hinaus. Ika hörte die Tür zuklappen und schaute zu Wowa. Der ließ sich wortlos in einen Sessel plumpsen, schaltete den Fernseher ein und fand auf einem Sportkanal ein Fußballspiel.
»Wie lange willst du hier rumhängen, du Bastard?«, flüsterte Ika, während sie den Inhalt ihrer Handtasche vom Tisch sammelte.
Die Antwort war ein dumpfer Kehllaut, dazu schlug Wowa sich aufs Knie. Eine Mannschaft hatte ein Tor geschossen.
Der Wanderer wusste nicht, ob er diese Nacht geschlafen hatte, aber er fühlte sich ausgeruht und voller Energie. Er hatte noch Zeit für einen morgendlichen Lauf.
In Jogginganzug und Turnschuhen, einen CD-Player am Gürtel, ging er aus dem Haus, grüßte freundlich die junge Nachbarin und half ihr mit dem Kinderwagen die Treppe hinunter.
Er schaltete den Player ein. Aus den Kopfhörern drang Schuberts Fünfte Sinfonie. Nun hörte er nur noch diese feierliche Musik und seine eigenen Gedanken. Er dachte an die Wandlingsfrau, aber jetzt ohne Angst, sondern freudig – eine künftige Beute. Der Körper eines Wandlings war ein Kerker für den Engel, der noch immer lebte und seit vielen Jahren litt.
Der Wanderer hatte lange nicht begriffen, wer sie in Wirklichkeit war. Hominiden besaßen kein so ausgeprägtes Gespür, nicht diese Leichtigkeit und Flexibilität im Denken. Hominiden sahen und hörten nur sich selbst, als wären sie von Spiegeln umgeben, in die sie unentwegt schauten, weshalb sie nichts wahrnahmen außer ihrem eigenen Spiegelbild aus verschiedenen Perspektiven.
Sie rochen auch ganz anders.
Anfangs meinte er, sie sei ein Mensch, genau wie er. Sie konnte zuhören. Sie war nicht von Spiegeln umgeben. Manchmal hatte er das Bedürfnis verspürt, ihr von sich zu erzählen, und geglaubt, sie würde ihn verstehen. Aber er hatte es nicht getan, er hatte rechtzeitig gemerkt: Sie war kein Mensch. Sie war ein Wandling. Und er tauchte für anderthalb Jahre unter.
Das würde nie wieder geschehen. Sie würde für alles büßen. Für ihr teuflisches Gespür und für seine demütigende Angst.
Die Turnschuhe federten weich auf dem feuchten Asphalt. Der kräftige, breitschultrige Mann im hellen Jogginganzug lief durch den Park. Er sah gut aus und wusste es. Das graue Haarund die harten, männlichen Falten machten ihn nur noch attraktiver. Er strahlte Kraft, Gesundheit und Wohlstand aus.
Zwei Mädchen gingen vorbei und drehten sich nach ihm um. Er winkte ihnen und lief weiter, er fühlte, dass sie ihm nachsahen. Zwei tote Hominidinnen. Zwei Schatten im Reich der ewigen Nacht. Mochten sie weitergehen, die Engel in ihnen waren längst erstickt.
Der Wanderer stellte den Ton lauter. Die Fünfte Sinfonie erklang ihm zu Ehren. Die Geigen sangen munter und fröhlich, wie befreite Engel im Himmel. Bald würde ein weiterer Engel
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