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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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nicht mehr an!«
    Er hörte es poltern, dann schrie Ika: »Lass mich los, du Idiot, das tut weh! Sie sind falsch verbunden!«
    Tuten. Sie hatte die Verbindung unterbrochen. Mark warf den Hörer hin und rannte aus dem Zimmer.
     
    Der Schattenmensch schrieb die Nummer auf Ikas Display in ein Notizbuch.
    »Hast du nicht gehört, du Idiot, das war falsch verbunden! Der wollte eine Ika sprechen, und ich heiße Irina. Kapiert?«
    Der Schattenmensch griff zum Handy. Ika hörte zum ersten Mal seine Stimme, die merkwürdig hoch klang, beinahe quiekend.
    »Er hat sich gemeldet«, sagte er, »hier ist die Nummer.«
    »Wer hat sich gemeldet? Was redest du da, Schwachkopf? Wie oft soll ich dir noch sagen, das war falsch verbunden«, plapperte Ika nervös.
    Er machte eine träge Handbewegung, und sie flog in die Ecke zur Couch und fing an zu weinen. Wowa setzte sich wieder in den Sessel, griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernsehton an.
    »Ihr kriegt ihn doch nicht«, murmelte Ika unter Tränen, »er hat von einem fremden Telefon aus angerufen. Mann, mir ist schlecht, so schlecht!«
    Sie stand auf und schleppte sich in die Küche, um sich wenigstens einen Kaffee zu kochen und etwas zu essen.
    »In was für eine Scheiße bist du bloß geraten, du Mistkerl«,knurrte sie, während sie mit Schranktüren und Geschirr klapperte, »hättest du mich nicht wenigstens warnen können? Und dann noch genau im falschen Moment anrufen. Statt dich gestern zu melden oder wenigstens eine Stunde eher. Und ich habe keine Ahnung, wer diese Leute sind. Anscheinend keine Bullen. Banditen?«
    Im Kühlschrank fanden sich nur ein Stück alter Käse und ein Glas vergammelte Mayonnaise. In einer Schale lagen noch drei Teekringel und anderthalb Pralinen. Löslichen Kaffe konnte sie gerade noch ein paar Löffel zusammenkratzen.
    Nach dem Kaffee zündete sich Ika eine Zigarette an und beruhigte sich fast. Ihr war in ihrem kurzen, aber stürmischen Leben schon einiges widerfahren. Sie wusste, dass sie nicht nervös werden durfte, sonst würde sie wieder anfangen zu stottern. Und das wäre das Allerschlimmste.
    Als sie klein war, hatte sie nicht einmal ihren kurzen Namen Ira mühelos aussprechen können. Sie blieb ewig an einem kläglichen »I-i« hängen. Viele glaubten, sie weine oder lache. Sie wurde gehänselt und »Ika« genannt, Stotterin, und dieser Spitzname war hängengeblieben.
    Sie wusste bis heute nicht, warum sie als Kind gestottert hatte. Was hatte ihr in ihrem Puppenparadies gefehlt? Vielleicht hatte sie bereits geahnt, was passieren würde? Ja, wahrscheinlich. Nicht umsonst hing sie so an ihrem Papa, wollte ständig auf seinen Arm, klammerte sich an ihn.
    Mama war immer zu Hause, Papa arbeitete viel. Er war Unternehmer, hatte 1989 mit zwei Kiosken angefangen. 1993 besaß er drei schicke Supermärkte und das beste Restaurant in Bykowo. Ika erinnerte sich, dass die Eltern ein Haus kaufen wollten, näher an Moskau, und dass sie zu dritt Häuser besichtigt hatten. Richtige Märchenpaläste mit Türmchen, Treppen und Säulen. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie in einem weißen Kleid mit Schleier die Marmortreppe hinunterlaufen würde. Das Haus ist von einem Garten umgeben, Apfelbäume blühen, Vögel singen, das Wasser im Pool glitzert,auf dem Tennisplatz ploppt ein Ball, im Pferdestall steht eine ganze Pferdefamilie, und das Fohlen nimmt mit seinen warmen Lippen Zucker aus ihrer Hand.
    Ika trainierte künstlerische Gymnastik und wollte Schauspielerin werden. Ihre Mutter kaufte ihr Samt- und Seidenkleider mit Spitze, Schleifchen und Rüschen. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr war Ika nur von Schönem umgeben, wie in einer brasilianischen Fernsehserie oder in einem Hochglanzmagazin. Selbst die Leibwächter ihres Vaters, finstere Gorillas, kamen ihr unwirklich vor, wie die Plastiksoldaten und Supermanfiguren aus der Spielzeugabteilung in Papas Supermärkten.
    »Hast du die gekauft?«, fragte Ika.
    »Nein. Ich habe sie engagiert.«
    »Wozu?«
    »Damit sie uns bewachen.«
    »Vor wem?«
    »Vor Feinden.«
    »Wir haben Feinde?«
    »Ja.«
    »Haben wir Angst vor ihnen?«
    »Nicht sehr.«
    »Werden wir sie besiegen?«
    »Auf jeden Fall.«
    Ika schnappte aus den Gesprächen der Erwachsenen auf, dass Papa Probleme hatte. Irgendwer wollte ihm sein Unternehmen wegnehmen. Manchmal erwachte sie nachts vom Telefonklingeln und hörte ihren Papa rufen: »Ich kann Sie nicht verstehen, rufen Sie noch einmal an!«
    Das Restaurant brannte ab. Dann kamen Banditen auf

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