Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
und viele kleine Kinder spielen nah am Abgrund. Du fängst sie, damit sie nicht hinabstürzen. Die Hominiden sind überall, du spürst den Gestank ihres giftigen Atems in der Luft; an den Türklinken in öffentlichen Gebäuden klebt der Schweiß ihrer Lüsternheit. Sie ernähren sich vom Tod der Kinder, die sie zu ihresgleichen machen. Du weißt, dass alles Böse von der Lüsternheit rührt. Die ersten Menschen wurden durch den Sündenfall freiwillig zu Tieren. Sie zogen die Lust, die Vereinigung, der Glückseligkeit im Paradies vor. Sie verließen das Reich des Lichts für die ewige Nacht. Du bist ein Aufklärer, ein Agent im Reich der Finsternis, du bist ein Abgesandter der Reinheit im Reich des Schmutzes, du bist ein Wanderer, dein Haus ist weit entfernt von hier.«
    Das Flüstern schwoll an, wurde zum Dröhnen. Er verstand keine einzelnen Worte mehr, er hatte das Gefühl, sein Kopf müsste gleich platzen. Nein, er war doch noch nicht aus dem Reich des Lichts zurückgekehrt, er konnte nicht im Hier und Jetzt leben, wie er es musste.
    Er versuchte, sich an etwas Reales zu klammern. Das einzige Geräusch, das durch das jenseitige Dröhnen zu ihm durchdrang, war sein Magenknurren. Hunger.
    Er nahm die Hähnchenflügel aus der Mikrowelle, goss Olivenöl in eine Pfanne, stellte sie auf den Herd und schälte Knoblauch. Das Öl zischte. Er legte eine Knoblauchzehe in die Presse. Die Hähnchenflügel in der Pfanne, weiß und zart,erinnerten ihn plötzlich an die verschlungenen zarten Gliedmaßen der Kinder in einem Pornofilm.
    Er setzte sich an den Tisch und zappte durch die Fernsehsender, bis er Nachrichten fand. Der Wanderer wartete auf einen Beitrag über sich.
    Ein stark geschminkter Sprecher berichtete über langweilige, unwichtige Ereignisse. Nach dem Sport kam der Wetterbericht; Ende der Woche sollte es wärmer werden. Kein Wort über den Körper.
    Vor kurzem war ein halbes Jahr lang im Fernsehen oft und ausführlich von ihm die Rede gewesen. Er hatte es genossen, der Einzige auf der Welt zu sein, der wusste, was in dem Waldstreifen unweit des Stadtrings geschehen war und warum dort der nackte Körper eines toten Kindes gefunden wurde.
     
    Sazepa hatte die Verhandlungen mit einer Eins minus abgeschlossen. Er hatte den Preis auf ein Maximum getrieben und es abgelehnt, an »schwarzer PR« mitzuwirken. Er hatte Mascha davon überzeugt, dass es nichts Besseres gebe als positive Informationen über den Kandidaten, professionell aufbereitet, taktvoll und unaufdringlich. Ein gezielter Gegenangriff würde Lawrentjew in den Augen der Wähler als ebenso zynischen Mistkerl dastehen lassen wie seine Konkurrenten. Das Volk hatte die Nase voll von Politikern, die einander mit teurer gedruckter Scheiße bewarfen. Lawrentjew sollte lieber in einem ruhigen Interview erklären, dass er es den Verleumdern mit gleicher Münze zurückzahlen und schwarze PR arrangieren könne, jedoch nie so weit sinken würde.
    Mascha hatte anfangs die Stirn gerunzelt und ungeduldig mit dem Bein im hohen Lackstiefel gewippt, sich aber irgendwann entspannt. Sazepa hatte sie überzeugt.
    Das Minus gab sich Sazepa im Stillen, weil er sein Handy vor der Verhandlung nicht ausgeschaltet hatte. Es war ein Reservetelefon mit einer in Rom gekauften Simcard auf einenfalschen Namen. Vor zwei Jahren hatte er sich geschworen, diesen Apparat nie in Gegenwart von Fremden einzuschalten oder gar zu benutzen.
    Im Büro, bei hohen Staatsbeamten, auf dem Tennisplatz, im Restaurant und im Bett mit seiner Frau quälte und langweilte er sich. Er lebte in einer eigenen Zeitrechnung, von einer Begegnung mit Shenja Katschalowa zur nächsten. Shenja war das einzige Wesen auf der Welt, das er liebte, zum ersten und letzten Mal im Leben.
    Jede Geste von ihr, jede Grimasse ihres kleinen Gesichts, die Wölbung ihres schmalen Rückens, das Gewicht und der Duft ihres Haars, die durchsichtigen leichten Finger, alles an ihr war für ihn wie eine Droge, ohne sie durchlebte er einen furchtbaren Entzug. Er hatte nie geahnt, dass ihm einmal so etwas passieren könnte.
    Nikolai Sazepa war ein normaler, gesunder, starker Mann. Ehemaliger Musterschüler und Komsomolfunktionär, Studium am Institut für Internationale Beziehungen, Dienst im sowjetischen Konsulat in Rom, Heirat mit der Tochter des Botschafters. Zwei Söhne. Eine glänzende diplomatische Karriere. Im ganzen Leben kein überflüssiges Wort, keine einzige falsche Tat. Keiner seiner Bekannten, Freunde und Mitarbeiter, schon gar

Weitere Kostenlose Bücher