Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
zu werden. Im kritischen Augenblick zog er sichin eine komfortable Nische zurück, auf den Posten des Vorstandschefs der Aktiengesellschaft Media-Prim. Unter seiner Ägide erschienen mehrere dicke Monatszeitschriften und dünne Hochglanz-Wochenmagazine.
    In Rom hatte er eine Wohnung gehabt und eine Villa am Meer, in Moskau bewohnte er mit seiner Frau ein kleines Penthouse auf dem Kutusow-Prospekt; außerdem baute er ein großes Haus in einer Sommersiedlung zwanzig Kilometer entfernt von Moskau.
    Die Söhne hatten in England studiert, der Jüngere war dort geblieben und hatte eine Engländerin geheiratet, der Ältere war in Moskau Chefredakteur des angesehensten Magazins von Media-Prim. Seine Frau Eva, Fotomodell, hatte ein Mädchen geboren, Lisa. Nun hatte Sazepa eine entzückende kleine Enkelin.
    Sein zweites Ich war alt und friedlich geworden. Sazepa liebte seine Enkelin, wie es sich für einen Großvater gehört – rein und uneigennützig.
    Im Internet wurden Hunderte, Tausende Mädchen angeboten, jeden Alters und für jeden Geschmack. An Chausseen und Magistralen standen jede Nacht zu allem bereite Minderjährige. In Zeitungen und Zeitschriften wimmelte es von bunter Werbung für VIP-Saunen und Massagesalons, wo man auf Wunsch garantiert nicht nur eine erwachsene, sondern auch eine kindliche Fee bekam. Aber Sazepa wollte sich in seinem Alter nicht mit einer groben Parodie auf echte Liebe trösten.
    In der warmen Jahreszeit kam Sazepa manchmal in den Kulturpark und schaute halbwüchsigen Mädchen beim Rollschuhlaufen zu. Dabei war er vor zwei Jahren Anfang Mai mit einem Mädchen zusammengestoßen, sie war direkt gegen ihn geprallt, ein dünnes, erhitztes kleines Mädchen von höchstens elf. Ihre langen kastanienbraunen Haare schimmerten in der Sonne kupfern. Sie raste in voller Fahrt auf die Gleise der Parkeisenbahn zu und konnte nicht mehr bremsen, doch Sazepa fing sie auf.
    »V-vorsicht!« Vor Aufregung stotterte er.
    Sie hielt es für einen Akzent und glaubte, einen Ausländer vor sich zu haben. Die vielen Jahre in Italien hatten Spuren hinterlassen – Sazepa wurde in Moskau oft für einen Ausländer gehalten. Das Mädchen sah ihn mit durchsichtigen blauen Augen an, nicht erschrocken, sondern neugierig, und sagte, noch immer in seinen Armen: »Oh, sorry! Thank you very much!«
     
    Die Melodie aus Vivaldis »Jahreszeiten« ließ Sazepa zusammenzucken. Das Reservehandy vibrierte in seiner Hand.
    »Ich glaube, wir haben eine Adresse«, sagte die heisere Frauenstimme, »was sollen wir tun?«
    »Beobachtet das Haus.« Sazepa atmete tief durch. »Wenn er auftaucht, nehmt Kontakt mit ihm auf. Und dann weiter wie geplant.«
    »Und wenn er nicht auftaucht?«
    »Wartet bis zum Abend.«
    Das Festnetztelefon klingelte, seine Sekretärin nahm sofort ab und teilte ihm im nächsten Moment mit: »Nikolai, Ihre Frau.«
    Sazepa schaltete das Handy ab und räusperte sich.
    »Ja, Häschen?«

Achtes Kapitel
    Eine klinikeigene Wattejacke über dem weißen Kittel, ging Doktor Filippowa durch den Krankenhauspark von einem Gebäude zum anderen und murmelte vor sich hin, sodass man sie statt für eine Ärztin durchaus für eine Psychiatrie-Patientin halten konnte.
    Professor Guschtschenko hatte sie gelehrt, mit dem unbekannten Mörder in einen Dialog zu treten.
    »Hab keine Angst. Sprich mit ihm. Früher oder später wird er dir antworten. Irgendwann wirst du spüren, dass er da ist, und seine Stimme hören. Das riecht zwar nach Spiritismusund Schamanentum, aber scher dich nicht darum. Pfeif drauf, wie es von außen aussieht. Rede weiter mit ihm.«
    Fünf Jahre hatte Doktor Filippowa in Guschtschenkos Gruppe in einem Institut des Innenministeriums gearbeitet. Sie sammelten und analysierten Daten zu Serienmördern und entwickelten das computergestützte Suchsystem »Profil«. Zu dem Team gehörten Psychologen, Psychiater, Kriminaltechniker, Gerichtsmediziner, Ermittler und sogar einige Wunderheiler. Der damalige Innenminister, ein Verehrer alles Amerikanischen, wollte gern in Russland etwas Ähnliches aufbauen wie die Profiling-Abteilung des FBI.
    Im Westen gab es bereits seit den sechziger Jahren Profiler. Sie erarbeiteten psychologische Täterprofile, um eine genauere Vorstellung von der Persönlichkeit eines Täters zu erhalten und seine Handlungen vorherzusagen. Psychologen und Psychiater waren für die Ermittlungsarbeit mitunter von großem Nutzen. In einigen Fällen konnten Serientäter ausschließlich dank solcher

Weitere Kostenlose Bücher