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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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nicht seine Frau und seine Söhne kämen auf die Idee, dass er sich leidenschaftlich zu halbwüchsigen Mädchen hingezogen fühlte.
    Er erfüllte regelmäßig seine ehelichen Pflichten – schloss die Augen und stellte sich anstelle seiner Frau eine Mitschülerin seines ältesten, später seines jüngeren Sohnes vor.
    Es existierten zwei Sazepas. Der eine war ein vollwertiger Mann und vorbildlicher Vater, der andere ein lüsternes Tier.
    Er hatte jahrelang in Rom gelebt, las mühelos Italienisch und Englisch, er hätte sich pornographische Bücher und Magazine kaufen, unter gewissen Vorsichtsmaßnahmen in Kinos mit einem reichhaltigen Pornoangebot für jeden Geschmack gehen und minderjährige Prostituierte aufsuchenkönnen. Doch das hatte er nie getan. Er ließ sich von seinem hässlichen zweiten »Ich« nicht unterkriegen, machte ihm keine Zugeständnisse.
    Der Intellektuelle Sazepa konnte nicht ohne Bücher leben, gestand sich aber nicht ein, dass ihn in der Literatur, ob Belletristik oder Sachbuch, in erster Linie das Thema der körperlichen Liebe zwischen einem erwachsenen Mann und einem kleinen Mädchen interessierte.
    Der Verkehr zwischen einem Erwachsenen und einem Kind roch immer nach Blut, nach Alptraum, nach psychischer Krankheit. Sazepas glückliche Gesinnungsbrüder waren Tiberius, Caligula, Marquis de Sade, Lawrenti Berija, buntbemalte afrikanische Stammeshäuptlinge, fette orientalische Scheichs, mittelalterliche Hexer, Vampire, Satanisten, Kriminelle und Psychopathen.
    Gäbe es eine Möglichkeit, sein hässliches zweites Ich loszuwerden, zu entfernen wie ein Geschwür, Sazepa hätte sich ohne zu zögern unters Messer gelegt.
    Der einzige Trost des Leidenden war Nabokovs großartiger Roman »Lolita«. Seine geheime Leidenschaft barg also nicht nur Grausames und Schmutz, sondern auch hohe Poesie. Er gehörte zu einem geheimen Clan Auserwählter, besaß eine besondere Sensibilität für das Schöne, die normalen Menschen fremd war.
    Sazepa hatte »Lolita« bestimmt zehnmal gelesen; er kannte es fast auswendig. Unter dem Eindruck dieses Buches verheilte und vernarbte seine innere Spaltung allmählich, bis er ein durchaus freundschaftliches Verhältnis zu seinem zweiten Ich aufgebaut hatte. Es mischte sich nicht in Sazepas steriles offizielles Leben, ließ ihn nicht erröten und den Blick senken, und er seinerseits schenkte seinem heimlichen Freund stille, gefahrlose Freuden. Das geniale Buch enthielt viele Rezepte, wie ein armer Künstler sich trösten konnte, ohne die Reinheit eines Mädchens zu gefährden und ohne seine eigene Haut zu riskieren.
    Stadtparks, Sportplätze, Schwimmhallen, Tennisplätze, Eisbahnen, Schülerkonzerte in der Botschaft, familiäre Abende mit Freunden, deren Töchter nicht älter waren als fünfzehn, und schließlich Meer und Strand. Da gab es Gelegenheiten, einem zarten Mädchen das Schwimmen, das Eis- oder Rollschuhlaufen beizubringen, ihm zu zeigen, wie man den Tennisschläger richtig hält, es auf ein Fahrrad oder ein Pony zu setzen.
    Alle wussten: Nikolai Sazepa liebt Kinder und knüpft leicht Kontakt mit Halbwüchsigen. Seiner Frau und seinen Freunden erzählte er, er habe sich immer eine Tochter gewünscht. Söhne seien großartig, aber er hätte gern auch noch ein Mädchen.
    Sazepa war fünfzig. Die Söhne waren erwachsen und nicht mehr von minderjährigen Feen umgeben, sondern von reizlosen jungen Mädchen. Sazepa wurde wehmütig. Da sandte ihm das Schicksal neue Hoffnung. Seine sechsundvierzigjährige Frau war schwanger, und laut Ultraschall war der Embryo weiblich.
    Ende des sechsten Monats gebar seine Frau ein totes Kind. In Sazepas Seele tobte ein schwarzer Sturm. Er verfiel in Depression, fühlte sich schuldig: Er habe den Embryo auf metaphysische Weise erschreckt oder das arme kleine Geschöpf mit seinem heißen Biostrom getötet, indem er sein Ohr auf den Bauch seiner Frau legte.
    Indessen lief Sazepas diplomatische Karriere glänzend, der neue Minister wollte ihn zum Botschafter ernennen. Doch Sazepa hatte andere, verlockendere Perspektiven im Sinn. Er nahm seinen Abschied, wurde Vorstandsmitglied eines mächtigen internationalen Konzerns und rechte Hand eines russischen Schatten-Oligarchen, kam mit sagenhaftem Kapital in Berührung, das aus dem ruinierten Russland gepumpt wurde, geriet in das Umfeld von Bandenkonflikten, Skandalen und Auftragsmorden. Aber Sazepa war zu vorsichtig, um eine Kugel in den Kopf zu bekommen, im Gefängnis zu landen oder richtig reich

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