In feinen Kreisen
»Bestreiten Sie die Richtigkeit meiner Ausführungen, Mr. Tobias?«, wollte er wissen.
Tobias starrte ihn mit kaum verhohlenem Ärger an.
»Mr. Tobias?«, hakte der Richter nach.
»Nein, natürlich nicht«, räumte Tobias ein und nahm wieder Platz.
Rathbone wandte sich abermals zu Cleo um. »Ich wiederhole, Mrs. Anderson, woher kam das Blut? Sie sind Krankenschwester. Sie müssen über rudimentäre Kenntnisse der Anatomie verfügen. Erzählen Sie uns nicht, Sie hätten nichts unternommen, um diesem blutüberströmten, zu Tode verängstigten Kind zu helfen, nichts, außer ihm ein sauberes Nachthemd zu geben!«
»Natürlich habe ich ihr geholfen!«, schluchzte Cleo. »Das arme kleine Ding hatte gerade ein Kind geboren – und dabei war sie selbst noch ein Kind. Eine Fehlgeburt, das vermutete ich jedenfalls.«
»Hat sie selbst Ihnen das gesagt?«
»Sie redete wirr. Ihre Worte ergaben kaum Sinn. Manchmal war sie kurz bei Verstand, dann wieder nicht. Sie bekam ein furchtbares Fieber, und wir waren nicht einmal sicher, ob wir sie überhaupt würden retten können. Es kommt sehr häufig vor, dass Frauen nach einer Geburt am Fieber sterben, vor allem wenn es eine schlimme Geburt war. Und sie war so jung – viel zu jung, das arme kleine Ding.«
Rathbone versuchte es mit einer gewagten Vermutung. Bisher war das alles zwar sehr tragisch, hatte aber weder mit den Morden an Treadwell noch an Verona Stourbridge etwas zu tun. Es sei denn, Treadwell hätte Miriam wegen des Kindes erpresst? Aber würde das Lucius so viel ausmachen? Würde eine solche Tragödie genügen, um ihn davon abzuhalten, sie zu heiraten? Oder seine Familie diese Heirat zuzulassen?
Rathbone hatte ihr bisher noch keinen großen Dienst erwiesen und nichts zu verlieren, wenn er diese Geschichte so weit wie nur möglich aufdeckte.
»Sie müssen sie doch gefragt haben, was geschehen ist?«, sagte er schroff. »Was hat sie gesagt? Das Gesetz zumindest hatte doch eine gewisse Erklärung gefordert. Was war mit ihrer eigenen Familie? Was haben ihre Leute getan, Mrs. Anderson, mit diesem verletzten und hysterischen Kind, dessen Geschichte für Sie keinen Sinn ergab?«
Cleos Gesicht verkrampfte sich, und sie sah Rathbone trotzig an.
»Ich habe die Polizei nicht verständigt. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich habe sie natürlich nach ihrem Namen gefragt und ob sie eine Familie hätte, die nach ihr suchen würde. Sie sagte, es gebe keine Familie und wer ich denn sei, das zu bestreiten? Sie sei eins von acht Kindern, und ihre Familie habe sie in Dienst gegeben, in ein gutes Haus.«
»Und das Kind?« Rathbone musste die Frage einfach stellen.
»Was für ein Mann ist das, der eine Zwölfjährige schwängert? Sie muss zwölf Jahre alt gewesen sein, als sie das Kind empfing. Hat der Vater sie sitzen lassen?«
Cleos Gesicht war aschfahl. Rathbone wagte es nicht, Miriam anzusehen. Er konnte nicht einmal erahnen, was sie im Augenblick durchmachte, während sie auf der Anklagebank saß und sich all das anhören musste. Er fragte sich, ob sie Harry oder Lucius Stourbridge ansehen würde oder Aiden Campbell, der bei den beiden Stourbridges in der ersten Reihe des Gerichtssaals saß. Vielleicht war dies hier schlimmer als alles, was sie bisher hatte ertragen müssen. Aber wenn sie, wenn Cleo überleben sollte, dann war es unabdingbar.
»Mrs. Anderson?«
»Sie hat ihm nie etwas bedeutet«, sagte Cleo sehr leise. »Sie sagte, er habe sie vergewaltigt, mehrmals. So ist sie zu dem Kind gekommen.«
Einer der Geschworenen sog scharf die Luft ein. Ein anderer ballte die Faust und schlug kurz und hart auf das Geländer vor sich.
Lucius wollte sich erheben, besann sich dann aber anders, hilflos und unentschlossen. Er wusste nicht, was er tun sollte.
»Aber das Kind kam tot zur Welt«, sagte Rathbone in die Stille hinein.
»So hatte ich mir das auch gedacht«, pflichtete Cleo ihm bei.
»Und was hatte Miriam in diesem Zustand allein in der Heide zu suchen?«
Cleo schüttelte den Kopf, als wolle sie die Wahrheit loswerden, als wolle sie sie in alle Winde zerstreuen.
Tobias starrte sie an.
Als sei sie sich seines Blickes bewusst, sah sie Rathbone noch einmal flehentlich an. Aber ihr Flehen galt Miriam, nicht ihr selbst. Davon war er absolut überzeugt.
»Was hat sie gesagt?«, fragte er.
Cleo senkte den Blick. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
»Dass sie mit einer anderen Frau aus dem Haus geflohen sei und dass diese
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