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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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her gerissen. »Diese Gnade blieb ihr verwehrt. Nur Gott allein weiß, warum. So etwas geschieht und häufiger als Sie vielleicht denken.«
    Tobias erhob sich mit entnervter Miene.
    »Euer Ehren, wir haben mit großer Geduld Miriam Gardiners Lebensgeschichte über uns ergehen lassen, und auch wenn wir selbstverständlich großes Mitgefühl für ihre frühen Erfahrungen aufbringen, wie auch immer die Wahrheit diesbezüglich aussehen mag, so hat das alles doch nicht das Geringste mit dem Tod von James Treadwell und Verona Stourbridge zu tun – es sei denn, es hätte Treadwell mit neuerlichem Material für seine erpresserischen Versuche versehen. Wenn er von diesem ersten Kind von Mrs. Gardiner wusste, glaubte er vielleicht, die Familie Stourbridge würde sie weniger freudig aufnehmen – das Opfer einer Vergewaltigung oder was auch immer sonst dahinter gesteckt haben mochte.«
    Der Richter machte keinen Hehl aus dem Abscheu, den er bei diesen Worten empfand, aber Tobias’ Argument war stichhaltig, und er wusste es.
    »Sir Oliver?«, sagte er fragend. »So wie es aussieht, haben Sie mehr Mr. Tobias’ Sache vorangetrieben als Ihre eigene.
    Haben Sie noch weitere Punkte, die Sie mit Ihren Mandanten besprechen möchten?«
    Rathbone hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er war verzweifelt.
    »Ja, Euer Ehren, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
    »Dann fahren Sie fort, aber sorgen Sie bitte dafür, dass es mit den Ereignissen in Zusammenhang steht, die zu beurteilen wir uns hier zusammengefunden haben.«
    »Sehr wohl, Euer Ehren.« Er drehte sich zu Cleo um.
    »Glauben Sie, dass sie vergewaltigt wurde, Mrs. Anderson? Oder denken Sie vielleicht, dass sie eben nicht besser war, als man es von solchen Mädchen erwarten darf, und…«
    »Sie war dreizehn!«, sagte Cleo wütend. »Zwölf, als es geschah! Natürlich glaubte ich, dass sie vergewaltigt worden war! Sie war ja halb von Sinnen vor Angst!«
    »Vor wem hatte sie Angst? Vor dem Mann, der sie vergewaltigt hatte – selbst da noch, neun Monate danach? Warum?«
    »Weil er versucht hat, sie umzubringen!«, schrie Cleo. Rathbone heuchelte Überraschung. »Das hat sie Ihnen erzählt?«
    »Ja!«
    »Und was haben Sie deswegen unternommen? Da war also irgendwo in der Nähe der Heide ein Mann, der das Mädchen vergewaltigt hatte, das Sie bei sich aufnahmen und wie Ihre eigene Tochter großzogen, und er hatte sie nicht nur vergewaltigt, sondern in der Folge auch noch versucht, sie zu ermorden – und Sie haben ihn nie gefunden? In Gottes Namen, warum nicht?«
    Cleo zitterte und rang nach Atem, und Rathbone fürchtete, dass er zu weit gegangen war.
    »Ich glaubte, dass sie vergewaltigt worden war oder verführt«, wisperte Cleo. »Aber Gott verzeih mir, ich dachte, was den Angriff auf ihr Leben betraf, da habe sich in ihrem Kopf alles vermischt, weil sie doch ein totes Baby geboren hatte, das arme kleine Ding.«
    »Bis wann dachten Sie das?«, fragte Rathbone eindringlich und mit erhobener Stimme. »Bis sie wieder einmal zu Ihnen gelaufen kam, fast hysterisch und zu Tode verängstigt! Und diesmal fand sich auf der Heide tatsächlich eine Leiche – die von James Treadwell! Vor wem ist sie davongelaufen, Mrs. Andersen?«
    Die Stille war vollkommen.
    Ein Geschworener hustete, und es klang wie eine Explosion.
    »War es James Treadwell?« Rathbone ließ seine Worte wie eine Herausforderung klingen.
    »Nein!«
    »Wer dann?« Schweigen.
    Der Richter beugte sich vor. »Wenn wir Ihnen glauben sollen, dass es nicht James Treadwell war, Mrs. Anderson, dann müssen Sie uns sagen, wer es war.«
    Cleo schluckte krampfhaft. »Aiden Campbell.«
    Wenn eine Bombe explodiert wäre, hätte die Wirkung nicht gewaltiger sein können.
    Rathbone war einen Moment wie gelähmt. Von der Galerie kam ein Brüllen.
    Die Geschworenen wandten sich einander zu, rangen nach Luft oder gaben ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck.
    Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch und rief zur Ordnung.
    »Euer Ehren!« Rathbone hob die Stimme. »Dürfte ich darum bitten, dass das Gericht sich jetzt für die Mittagspause zurückzieht, damit ich mit meiner Mandantin sprechen kann?«
    »Stattgegeben«, stimmte der Richter ihm zu und ließ abermals seinen Hammer niedersausen. »Das Gericht wird um zwei Uhr wieder zusammentreten.«
    Rathbone verließ benommen den Gerichtssaal und ging in den Raum hinunter, in dem es Miriam Gardiner gestattet war, mit ihm zu sprechen.
    Sie drehte nicht einmal den Kopf, als er die Tür

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