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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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öffnete und eintrat. Der Wärter blieb draußen stehen.
    »War es Aiden Campbell, vor dem Sie geflohen sind?«, fragte er.
    Sie sagte nichts, sondern saß nur reglos und mit abgewandtem Kopf da.
    »Warum?«, hakte er nach. »Was hatte er Ihnen angetan?« Schweigen.
    »War er derjenige, der Sie damals vergewaltigt hat?« In seiner Verzweiflung wurde seine Stimme immer lauter und schriller.
    »Um Himmels willen, antworten Sie mir! Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie nicht mit mir reden?« Er beugte sich über den kleinen Tisch, aber sie wandte sich noch immer nicht zu ihm um. »Sie werden hängen!«, sagte er sehr deutlich.
    »Ich weiß«, antwortete sie endlich.
    »Und Cleo Andersen ebenfalls!«, fügte er hinzu.
    »Nein – ich werde sagen, ich hätte auch Treadwell getötet. Ich werde es auf dem Zeugenstand beschwören. Sie werden mir glauben, weil sie mir glauben wollen. Keiner von ihnen möchte Cleo verurteilen.«
    Das war die Wahrheit, und er wusste es ebenso gut wie sie.
    »Sie werden das im Zeugenstand beschwören?«
    »Ja.«
    »Aber es ist nicht wahr!«
    Diesmal drehte sie sich um und sah ihm direkt in die Augen.
    »Das können Sie nicht wissen, Sir Oliver. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Wenn ich sage, es ist so, wollen Sie dann Ihrer eigenen Mandantin widersprechen? Sie müssen ein Narr sein – es ist das, was die Leute hören wollen. Sie werden es glauben.« Er starrte sie an, für den Augenblick geschlagen. Er hatte das Gefühl, dass sie, wäre nur noch ein Fünkchen Leben in ihr gewesen, jetzt gelächelt hätte. Er wusste, wenn er sie nicht in den Zeugenstand rief, dann würde sie den Richter von der Anklagebank aus um die Erlaubnis bitten zu sprechen, und er würde dieser Bitte entsprechen. Es gab nichts mehr zu sagen.
    Er ging und nahm ohne Appetit sein Mittagessen ein.
    Rathbone hatte keine andere Wahl, als Aiden Campbell in den Zeugenstand zu rufen. Wenn er es nicht getan hätte, so hätte Tobias keinen Augenblick damit gezögert. Auf diese Weise würde ihm das Ganze vielleicht nicht vollständig aus den Händen gleiten.
    Im Gerichtssaal herrschte knisternde Spannung. Während der Mittagspause musste sich herumgesprochen haben, welche Entwicklung die Verhandlung genommen hatte, denn jetzt war jeder Platz besetzt und die Gerichtsdiener mussten andere Neugierige zurückhalten, die in den Raum drängten.
    Der Richter rief sie zur Ordnung und Rathbone erhob sich.
    »Ich rufe Aiden Campbell in den Zeugenstand, Euer Ehren.« Campbell war bleich, aber gefasst. Er musste gewusst haben , dass dies unvermeidlich war, und hatte fast zwei Stunden Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. Jetzt stand er vor Rathbone, eine hoch gewachsene, aufrechte Gestalt. Er glich auf tragische Weise sowohl seiner toten Schwester als auch seinem Neffen Lucius, der blass neben seinem Vater saß und mehr einem Geist als einem lebenden Wesen ähnelte. Immer wieder starrte er zu Miriam hinauf, aber Rathbone hatte nicht ein einziges Mal gesehen, dass sie seinen Blick erwiderte.
    »Mr. Campbell«, begann Rathbone, nachdem man Campbell daran erinnert hatte, dass er noch immer unter Eid aussagte, »die letzte Zeugin hat eine ungewöhnliche Anklage gegen Sie erhoben. Sind Sie bereit, dazu Stellung zu nehmen…?«
    »Das bin ich!« Campbell unterbrach ihn in seinem Eifer zu antworten. »Ich hatte von Herzen gehofft, dass dies niemals notwendig werden würde. Tatsächlich habe ich beträchtliche Anstrengungen unternommen, um es zu verhindern – um meiner Familie willen und aus einem gewissen Gefühl von Anstand heraus. Ich wollte alte Geschichten begraben und dafür sorgen, dass sie sich nicht in die Gegenwart hineindrängen, wo sie nur unschuldigen Menschen weh tun konnten.« Er sah zu Lucius hinüber und wandte dann den Blick wieder ab. Die Bedeutung seiner Worte war klar.
    »Mrs. Anderson hat beschworen, Miriam Gardiner habe behauptet, Sie seien es gewesen, vor dem sie geflohen ist, als sie das Gartenfest am Cleveland Square verließ. Ist das wahr?«, fragte Rathbone.
    Campbell wirkte zutiefst bekümmert. »Ja«, sagte er leise. Dann schüttelte er fast unmerklich den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich gehofft hatte, dies nicht sagen zu müssen. Ich kannte Miriam Gardiner – Miriam Speake, wie sie damals hieß, als sie zwölf Jahre alt war. Sie war Dienstmädchen in meinem Haus, als ich noch in der Nähe von Hampstead wohnte.«
    Im Saal verbreitete sich Unruhe, und viele der Zuschauer schnappten hörbar nach

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