In feinen Kreisen
versucht habe, sie zu schützen, und die Frau sei ermordet worden… da draußen auf der Heide.«
Rathbone war sprachlos. In seiner Phantasie hatte er viele Möglichkeiten durchgespielt, aber nicht diese. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu fassen. Er wollte Miriam eigentlich nicht ansehen, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Blick in ihre Richtung wanderte.
Sie saß mit kalkweißem Gesicht und geschlossenen Augen auf der Anklagebank. Es muss ihr bewusst gewesen sein, dass jeder Mann und jede Frau im Raum sie anstarrten und dass sie sich nur in sich selbst zurückziehen konnte. Er sah den Schmerz in ihrem Gesicht, einen Schmerz, der unerträglich war – aber keine Überraschung. Sie hatte gewusst, was Cleo sagen würde. Mehr als alles andere, gab das ihm absolute Gewissheit. Er glaubte ihr. Ob es geschehen war oder nicht, ob es eine solche Frau gegeben hatte, ob sie die Ausgeburt der Phantasie eines gequälten und hysterischen Mädchens im Fieberdelirium war, Miriam glaubte, dass es die Wahrheit war.
Rathbone warf Hester einen raschen Blick zu und sah auch in ihrem Gesicht fassungsloses Staunen. Sie hatte gewusst, dass es da ein Geheimnis gab – aber das hier überraschte selbst sie.
Er stellte die Frage, auf die das ganze Gericht wartete.
»Und wurde der Leichnam dieser Frau gefunden, Mrs. Anderson?«
»Nein…«
»Sie haben nach ihr gesucht?«
»Natürlich haben wir das. Wir haben alle gesucht. Jeder einzelne Mann in unserer Straße.«
»Aber Sie haben sie nie gefunden?«
»Nein.«
»Und Miriam konnte Sie nicht zu der Stelle führen? Noch einmal – ich darf doch davon ausgehen, dass Sie sie gefragt haben? Das war schließlich kaum ein Thema, das Sie einfach fallen lassen konnten!«
Sie sah ihn wütend an. »Natürlich haben wir das Thema nicht fallen lassen! Sie sagte, es sei bei einer Eiche geschehen, aber die Heide ist voller Eichen. Als wir nach einer ganzen Woche des Suchens noch immer nichts fanden, gingen wir davon aus, dass sie vorübergehend den Verstand verloren haben muss, sehr verständlich, nach allem, was passiert war. Die Menschen sehen alle möglichen Dinge, wenn sie krank sind, ganz zu schweigen von dem Kummer um ein totes Kind – und das, wo sie doch selbst noch ein Kind war!« Ihre Verachtung für ihn schwang in ihren Worten deutlich mit, obwohl er nur tat, was er tun musste.
Tobias saß an seinem Pult und schüttelte den Kopf.
»Sie haben also daraus den Schluss gezogen, dass sie sich zumindest diesen Teil ihrer Geschichte – ihres Alptraums – eingebildet hatte, und Sie haben die Geschichte einfach vergessen?«, hakte er nach.
»Natürlich haben wir das. Sie brauchte Monate, um sich zu erholen, und als es ihr endlich besser ging, waren wir alle so glücklich darüber, dass wir nie wieder von diesen Dingen sprachen. Warum sollten wir auch? Niemand sonst hat es je getan. Niemand kam, um jemanden zu suchen. Die Polizei wurde gefragt, ob jemand vermisst gemeldet worden sei.«
»Und was war mit Miriam? Hatten Sie der Polizei gesagt, dass Sie sie gefunden haben? Immerhin war sie damals doch selbst erst dreizehn Jahre alt.«
»Natürlich haben wir der Polizei das alles gesagt. Sie war nirgendwo vermisst gemeldet worden, und die Polizei war mehr als zufrieden, dass jemand sich um das Kind kümmerte.«
»Und sie ist in der Folge bei Ihnen geblieben?«
»Ja. Sie wuchs zu einem sehr hübschen Mädchen heran.« In ihren Worten lag unverkennbarer Stolz. Ihre Liebe zu Miriam war so deutlich in ihrer Miene zu lesen und in ihrer Stimme zu hören, dass keine Worte beredter davon hätten Zeugnis ablegen können. »Als sie neunzehn war, begann Mr. Gardiner, sie zu umwerben. Sehr vorsichtig, sehr sanft machte er seine ersten Annäherungsversuche. Wir wussten, dass er ein Gutteil älter war als sie, aber es machte ihr nichts aus und das war alles, was zählte. Wenn er sie glücklich machte, dann war das für mich das einzig Wichtige.«
»Und die beiden haben geheiratet?«
»Ja, eine Weile später. Und er war ihr ein sehr guter Ehemann, jawohl.«
»Und als er starb?«
»Ja. Das war sehr traurig. Er starb jung, obwohl er natürlich älter war als sie. Er bekam einen Herzanfall, und wenige Tage später war er tot. Sie hat ihn wirklich vermisst.«
»Bis sie Lucius Stourbridge begegnete?«
»Ja – aber das war drei Jahre später.«
»Aber sie hatte keine Kinder von Mr. Gardiner?«
»Nein.« Ihre Stimme klang, als sei sie zwischen zwei sich widerstreitenden Gefühlen hin und
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