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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Geschichte sie alle tief verletzen würde. Sie hatten Miriam sehr gern. Lucius liebte sie, wie nur ein junger und idealistischer Mann lieben kann. Ich glaube, sie war seine erste Liebe…« Er ließ den Satz unvollendet, sodass jeder Mann Zeit hatte, sich an seine eigene erste Liebe – und vielleicht auch Enttäuschungen – zu erinnern.
    »Ich verstehe«, sagte Tobias leise. »Nur Gott kann wissen, ob diese Entscheidung die richtige war, aber ich verstehe nur zu gut, was Sie dazu bewegen hat. Ich fürchte, ich muss Ihnen noch weitere Fragen stellen, aber nur zu einem einzigen Punkt.«
    »Ja?«
    »Der Kutscher, James Treadwell. Was glauben Sie, warum Mrs. Gardiner mit ihm weggefahren ist?«
    »Er war der Diener im Haus, den sie am besten kannte«, erwiderte Campbell. »Wenn ich recht informiert bin, hatte er sie häufig von Hampstead abgeholt. Ich will nicht spekulieren, dass da mehr dahintersteckte…«
    »Das ist sehr taktvoll von Ihnen«, bemerkte Tobias, »wenn man bedenkt, was Sie über Mrs. Gardiners früheres Verhalten männlichen Dienstboten gegenüber wissen!«
    Campbell presste die Lippen zusammen, aber er antwortete nicht.
    »Erzählen Sie mir«, sprach Tobias weiter, »woher wusste dieser Kutscher, dass Mrs. Anderson Medikamente entwendete?«
    »Ich habe keine Ahnung!« Campbell klang überrascht, dann machte er ein resigniertes Gesicht. Er schüttelte den Kopf.
    »Nein – ich glaube nicht, dass Miriam es ihm erzählt hat! Sie war eine Intrigantin, immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht und habgierig – aber, nein. Es sei denn, es war ein Versehen, und ihr war nicht klar, was er mit der Information anfangen würde…«
    »Wäre es nicht die perfekte Rache gewesen?«, fragte Tobias glattzüngig. »Ihre Heirat mit Lucius Stourbridge ist jetzt nicht mehr möglich, weil sie weiß, dass Sie es niemals zulassen werden. Treadwell ruiniert ihre Freundin und Gönnerin, zu der sie nun zurückkehren muss. Sie ist wütend, ja sogar verzweifelt – und sie schlägt auf ihn ein! Was könnte natürlicher sein?«
    »Ja, das wäre vorstellbar«, räumte Campbell ein.
    Tobias wandte sich an den Richter. »Euer Ehren, das dürfte für heute genug der Tragödie sein. Wenn das Gericht einverstanden ist, möchte ich vorschlagen, dass wir die Verhandlung bis morgen vertagen. Vielleicht hat Sir Oliver dann weitere Beweise vorzulegen, von denen er glaubt, dass sie seinen Fall noch retten. Ich persönlich habe nicht mehr viel hinzuzufügen.«
    Der Richter sah Rathbone fragend an, aber er hielt bereits seinen Hammer in der Hand.
    Rathbone gab sich geschlagen.
    »Gewiss, Euer Ehren«, sagte er leise. »Natürlich.«
    Rathbone hatte kaum den Saal verlassen, als der Gerichtsdiener an ihn herantrat.
    Er wollte mit niemandem sprechen. Er spürte die Bitterkeit der Niederlage, von der er wusste, dass er sie sich selbst zuzuschreiben hatte. Am meisten fürchtete er sich davor, Hester gegenüberzutreten und ihre Enttäuschung zu sehen.
    »Was gibt es?«, fragte er schroff.
    »Entschuldigung, Sir Oliver«, erwiderte der Gerichtsdiener höflich. »Mrs. Andersen hat darum gebeten, dass Sie sie aufsuchen, Sir. Sie sagte, es sei äußerst wichtig.«
    Es gab doch etwas, was schlimmer war, als Hester gegenüberzutreten: Cleo Anderson sagen zu müssen, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Er atmete tief durch. Es ließ sich nicht vermeiden. Wenn man einen Sieg annehmen und feiern konnte, dann musste man auch eine Niederlage mit Fassung tragen.
    »Natürlich«, erwiderte er. »Ich danke Ihnen, Morris.« Er drehte sich um und war bereits ein Stück den Korridor entlanggegangen, als Hester ihn einholte. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Es gab keinen Trost, den er ihr anbieten konnte, keine neue Verteidigungsstrategie.
    Sie passte sich seinem Schritt an und ging schweigend neben ihm her.
    Cleo wartete in dem kleinen Raum, vor dem der Wärter postiert war, bereits auf Rathbone und trat auf ihn und Hester zu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
    »Er lügt«, sagte sie und blickte dabei von einem zum anderen. Rathbone war verlegen und schüttelte den Kopf. »Es ist nur zu verständlich, dass Sie glauben wollen…«
    »Es hat nichts mit Glauben zu tun!«, sagte sie verächtlich.
    »Ich habe sie doch damals gesehen! Sie hatte keine Abtreibung. Sie hatte das Kind voll ausgetragen.« Cleo war wütend, weil er sie nicht verstand. »Ich bin Krankenschwester. Ich kenne den Unterschied zwischen einer Frau, die entbunden hat, und

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