In feinen Kreisen
Wahrheit hat keinen – hat nichts damit zu tun. Das wird sich niemals ändern.« Er holte tief Atem und stieß einen erstickten Seufzer aus. »Aber ich weiß jetzt, dass er nicht mein Sohn ist und auch nicht der Sohn meiner Frau…«
Eine Welle der Erregung ging durch den Saal. Die Geschworenen waren wie gelähmt. Selbst der Richter schien Halt zu suchen.
Rathbones Lippen waren trocken, und sein Herz hämmerte. Harry Stourbridge sah zu Lucius hinüber. »Verzeih mir« , flüsterte er. »Ich habe dich immer geliebt, und ich werde dich immer lieben.« Dann blickte er wieder nach vorn und nahm Habtachtstellung an. »Er ist das Kind des Bruders meiner Frau, Aiden Campbell, gezeugt mit seiner zwölf Jahre alten Magd, Miriam Speake, die er vergewaltigte, damit ich einen Erben hätte und seine Schwester nicht den Zugang zu meinem Vermögen verlöre, sollte ich im Kampf oder an einer Krankheit sterben, während ich in Übersee war. Sie war ihm gegenüber immer sehr großzügig.«
Zorniges Raunen war zu hören.
Aiden Campbell sprang auf, aber er fand keine Worte.
Zwei Gerichtsdiener traten wie auf ein Zeichen hin vor, um ihn aufzuhalten, sollte dies notwendig werden.
Harry Stourbridge fuhr fort, als nehme er nichts von alledem wahr. Er musste seine Geschichte zu Ende bringen. »Er ermordete die Hebamme, damit sie nichts weitersagen konnte, und er versuchte, auch die Mutter des Kindes zu töten, aber sie entkam. Vielleicht hat sie nie erfahren, ob ihr Kind überlebt hatte oder gestorben war – bis sie bei dem Gartenfest sah, wie Aiden einen Krocketschläger schwang. Er holte zum Scherz besonders weit aus, und die Erinnerung kehrte zurück und mit ihr ein Begreifen, das so schrecklich war, dass sie nur noch die Flucht ergreifen und Schweigen bewahren konnte, selbst um den Preis ihres eigenen Lebens. Selbst das hätte sie in Kauf genommen, um vor uns, aber vor allem vor Lucius, zu verbergen, dass er sich in seine eigene… Mutter… verliebt hatte.« Seine Stimme versagte endgültig, und so sehr er auch dagegen ankämpfte, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Die Unruhe im Gerichtssaal nahm zu, bis es wie das Tosen einer anschwellenden Flut klang.
Die Gerichtsdiener traten näher an Aiden Campbell heran. Rathbone war schwindlig. Aus den Augenwinkeln sah er Hester und direkt hinter ihr Monk, in dessen Gesicht ebenso großes Entsetzen stand wie in dem seiner Frau.
Er blickte zu Miriam. Es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, dass dies die Wahrheit war. Man konnte es in ihren Augen sehen, an der ganzen Haltung ihres Körpers.
Er wandte sich wieder an Harry Stourbridge.
»Ich danke Ihnen«, sagte er leise. »Niemand hier kann ermessen, was es Sie gekostet haben muss, dies öffentlich kundzutun. Ich weiß nicht, ob Mr. Tobias noch irgendwelche Fragen an Sie hat. Ich habe keine mehr.«
Tobias stand auf, begann zu sprechen und brach dann ab. Er sah zu den Geschworenen, dann wieder zum Richter. »Ich denke, Euer Ehren, dass im Interesse der Wahrheit noch einige weitere Erklärungen vonnöten sind. So schrecklich diese Geschichte ist, es gibt…« Er machte eine hilflose Geste und ließ den Rest ungesagt.
Rathbone war stehen geblieben.
»Euer Ehren, ich denke, dass Mrs. Gardiner jetzt nichts mehr hat, was sie schützen müsste. Wenn ich sie in den Zeugenstand rufe, wird sie vielleicht bereit sein, uns das Wenige noch zu erzählen, was wir nicht wissen.«
»Unbedingt«, stimmte der Richter zu. »Wenn sie bereit dazu ist – und in der Lage?« Er wandte sich an Stourbridge. »Ich danke Ihnen, Sir, für Ihre Aufrichtigkeit. Wir haben keine weiteren Fragen an Sie.«
Wie ein Mann, der durch tiefes Wasser watete, ging Harry Stourbridge die Stufen hinunter und blieb dann kurz mitten im Saal stehen. Er blickte zur Anklagebank empor, wo Miriam sich erhoben hatte. In seinen Zügen lag eine Zärtlichkeit, die alle Anwesenden den Atem anhalten ließ, es war ein Ausdruck von Mitgefühl und tiefer Dankbarkeit, den Miriam trotz ihres Schmerzes nicht übersehen konnte.
Er wartete, während sie die Stufen herunterkam. Der Wärter trat beiseite, als sei ihm klar, dass seine Anwesenheit nicht mehr notwendig war.
Miriam machte vor Harry Stourbridge Halt. Zögerlich streckte er den Arm aus und berührte sie an der Schulter, so sanft, dass sie es kaum gespürt haben konnte. Er lächelte. Sie legte einen Augenblick lang ihre Hand über seine, dann setzte sie ihren Weg zum Zeugenstand fort, stieg hinauf und wandte sich
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