In feinen Kreisen
lag.
Dort fand sie Cleo im Gespräch mit einem alten Mann, der offensichtlich Angst hatte und sich alle Mühe gab, dies zu verbergen. Er hatte an beiden Beinen offene Geschwüre, die arge Schmerzen verursachen mussten und so aussahen, als hätten sie ihn schon eine ganze Weile geplagt. Er lächelte Cleo zu, aber seine Hände verkrampften sich, bis die Knöchel weiß hervortraten. Er saß stocksteif auf seinem Stuhl.
»Sie müssen sie regelmäßig frisch verbinden lassen«, erklärte Cleo ihm. »Vor allem müssen Sie sie sauber halten, sonst heilen sie nie. Ich mache das für Sie, wenn Sie herkommen und nach mir fragen.«
»Ich kann nicht jeden Tag herkommen«, antwortete er höflich, aber bestimmt. »Es geht einfach nicht, Miss.«
»So, es geht nicht?« Sie sah ihn nachdenklich an und betrachtete dann die abgetretenen Stiefel und die abgetragene Jacke. »Nun, dann muss ich wohl zu Ihnen kommen. Ist es weit, hm?«
»Und warum sollten Sie das tun?«, fragte er zweifelnd.
»Weil diese Geschwüre sonst nicht heilen«, antwortete sie spitz.
»Ich will aber keine Gefälligkeiten«, empörte er sich. »Ich will keine Schwestern im Haus haben! Was sollen denn die Nachbarn von mir denken?«
Cleo zuckte kaum merklich zusammen. »Dass Sie verdammtes Glück haben, in Ihrem Alter noch eine so gut aussehende Frau wie mich geködert zu haben!«, blaffte sie ihn ihrerseits an.
Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Aber Sie können trotzdem nicht kommen.«
Sie sah geduldig auf ihn hinab. »So was nennt sich Soldat und kann keine Befehle von jemandem entgegennehmen, der es besser weiß – und dass Sie sich da nicht irren, mein Herr, wenn es um diese Geschwüre geht, bin ich Ihr Sergeant.«
Er holte tief Luft und schwieg.
»Also?«, fragte Cleo. »Werden Sie mir verraten, wo Sie wohnen, oder muss ich erst meine Zeit damit verschwenden, es selbst herauszufinden?«
»Church Row«, erwiderte er widerstrebend.
»Und soll ich vielleicht die ganze Straße rauf und runter marschieren und nach Ihnen fragen, wie?«, sagte Cleo mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Nummer einundzwanzig.«
»Wunderbar! Himmel, das ist ja wie Zähneziehen!«
Er war sich nicht sicher, ob sie einen Witz gemacht hatte oder nicht. Er lächelte zaghaft.
Sie erwiderte sein Lächeln, dann sah sie Hester auf sich zukommen und versuchte den Anschein zu erwecken, als habe die Begegnung mit dem alten Mann sie nicht aus der Fassung gebracht.
»Ich werd’s nicht in meiner Dienstzeit tun«, flüsterte sie ihr zu. »Der arme alte Kerl hat bei Waterloo gekämpft, und sehen Sie sich an, in was für ‘nem Zustand er ist.« Ihre Miene verdüsterte sich, und sie vergaß den gebührenden Respekt gegenüber einer gesellschaftlich höher gestellten Frau. Zorn funkelte in ihrem Blick. »Was waren wir nicht alle begeistert von unseren Soldaten, als wir dachten, die Franzmänner würden uns überfallen, und wir könnten vielleicht verlieren. Jetzt, fünfundvierzig Jahre später, haben wir vergessen, was sie für uns getan haben, und wer schert sich schon um einen alten Mann mit offenen Beinen, der kein Geld hat und über Kriege redet, von denen wir nichts wissen?«
Hester dachte an die Männer, die sie in Scutari und Sewastopol kennen gelernt hatte und an die Zelte der Chirurgen nach dem chaotischen Sturm auf Balaklava. Sie waren so jung gewesen und hatten so schreckliche Schmerzen gelitten. Ihre leichenblassen Gesichter waren es, die letzte Nacht Hesters Träume heimgesucht hatten. Sie konnte sie vor ihrem inneren Auge deutlich sehen. Jene, die überlebt hatten, würden in vierzig Jahren alte Männer sein. Würden die Menschen sich ihrer dann noch erinnern? Oder würde es eine neue Generation geben, die nur den Frieden kannte und alte Soldaten langweilig und lästig fand?
»Sorgen Sie dafür, dass er versorgt wird«, sagte Hester leise.
»Das ist alles, was zählt. Tun Sie, wann immer Sie es einrichten können. «
Cleo sah Hester erstaunt an. Einen Moment lang wusste sie nicht, ob sie richtig gehört hatte. Sie kannten einander kaum. Hier im Hospital verband sie die Arbeit, aber wenn sie nach Hause gingen, kehrten sie in verschiedene Welten zurück.
»Das, was wir ihnen schulden, kann niemand ermessen«, erwiderte Hester, »geschweige denn bezahlen.«
Cleo bewegte sich nicht.
»Ich war in Scutari«, erklärte Hester.
»Oh…« Es war nur ein einziges Wort, aber es rief Verständnis hervor und tiefen Respekt. Cleo nickte leicht und ging zum nächsten
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