In feinen Kreisen
Junge, Michael, würde gar nicht wissen, was ich brauche, nicht?«
Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass irgendetwas nicht stimmen könnte. Er sprach lediglich von der Freundlichkeit, die ihm zuteil geworden war. Die finsteren Gedanken lauerten einzig in Monks Kopf.
Michael hatte inzwischen alles abgewaschen und aufgeräumt, so dass er möglichst wenig zu tun haben würde, wenn es ihm gegen Mittag gelang, sich für kurze Zeit nach Hause zu stehlen. Er stellte eine Tasse Wasser in Reichweite des alten Mannes auf den Tisch, legte noch eine Scheibe Brot daneben und versicherte sich ein letztes Mal, dass er es so bequem wie nur möglich hatte. Dann wandte er sich an Monk.
»Ich muss jetzt aufs Revier. Ich werde über das nachdenken, was Sie mir erzählt haben. Es könnte noch eine dritte Person dabei gewesen sein, als Treadwell getötet wurde, aber es gibt keine Beweise dafür, nichts, was auf die Identität dieser Person schließen ließe. Und warum ist Miriam Gardiner weggelaufen? Warum sagt sie uns nicht wenigstens jetzt die Wahrheit?«
Monk fielen mehrere Antworten auf diese Frage ein, aber nicht eine einzige davon war überzeugend oder hätte ihre Unschuld bewiesen. Die Befürchtung, die langsam Gestalt annahm, gefiel ihm noch weniger, aber er konnte sich den Tatsachen nicht länger verschließen. Er erhob sich, verabschiedete sich von dem alten Mann, wünschte ihm alles Gute und kam sich dabei wie ein Heuchler vor. Dann folgte er Michael Robb hinaus auf die sonnenbeschienene, lärmende Straße.
Hundert Meter weiter trennten sie sich, Robb wandte sich nach links, und Monk ging nach rechts, Richtung Krankenhaus. Er war sich jetzt beinahe sicher, den Grund für Hesters Besorgnis zu kennen und auch zu wissen, warum sie mit ihm nicht darüber sprechen konnte. Im Krankenhaus waren Medikamente verschwunden. Man ging davon aus, dass sie gestohlen worden waren, entweder um die Sucht des Diebes selbst zu befriedigen oder um sie zu verkaufen, was wahrscheinlicher war. Hester hatte John Robb mehrmals in seinem Haus besucht und musste auch den Medizinschrank bemerkt haben. Der alte Mann hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass die Medikamente von einer Krankenschwester gebracht wurden. Man konnte daraus leicht den Schluss ziehen, dass die Diebstähle nicht aus egoistischen Motiven begangen wurden, sondern um mittellose alte und kranke Menschen damit zu versorgen.
John Robb hatte keine Ahnung davon. Abgesehen von den Schuldgefühlen hätte sein Stolz niemals zugelassen, eine Hilfe anzunehmen, die mit solchen Risiken verbunden war. Er nahm die Medikamente an, weil er davon ausging, dass sie bereits bezahlt waren.
Hester hatte sich sehr präzise ausgedrückt, als sie leugnete, von irgendeinem Verbrechen zu wissen – »nicht in moralischer Hinsicht«, hatte sie gesagt. Vor dem Gesetz jedoch war es eindeutig Diebstahl.
Die Frage war nun, konnte Treadwell davon gewusst haben? Warum nicht? Er verbrachte die meisten seiner freien Tage in Hampstead. Seine Leiche war auf dem Weg vor dem Haus einer Krankenschwester gefunden worden – Cleo Anderson. Monk erinnerte sich lebhaft an sie, an ihre Verteidigung Miriams und ihr nachdrückliches Leugnen zu wissen, wohin Miriam nach ihrer Flucht vom Cleveland Square gegangen sein könnte. Es war ihm verhasst, dieser Sache nachzugehen, aber die Schlussfolgerung lag auf der Hand. Es war Cleo Anderson, die von Treadwell erpresst worden war, und es war alles andere als Zufall, dass man ihn auf dem Weg vor ihrem Haus fand. Er war in dem Wissen dorthin gekrochen, dass er sterben würde, und bis zum letzten Atemzug entschlossen, sie in Verdacht zu bringen und gleichzeitig eine gewisse Gerechtigkeit für sich selbst zu erreichen, Gerechtigkeit und Rache. Sein Leichnam würde die Polizei unausweichlich zu Cleo führen.
Vielleicht hatte Miriam am Ende doch nichts mit dem Mord zu tun, aber da sie wusste, warum Cleo die Medikamente gestohlen hatte, und da sie ihr für ihre Güte sehr viel schuldete, konnte sie ihre eigene Freilassung unmöglich auf Cleos Kosten erwirken. Das wäre eine Erklärung für ihr Schweigen! Die Schuld war zu groß.
Monk beschleunigte seinen Schritt und drängte sich zwischen Fußgängern hindurch, die in der warmen Vormittagssonne einherschlenderten, Hausierern, die Sandwiches, kandierte Äpfel und Pfefferminzgetränke feilboten, und Händlern, die lauthals ihre Ware anpriesen. Er nahm all diese Leute kaum wahr. Der Lärm drang wie von ferne an sein Ohr, nicht mehr als ein
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