In feinen Kreisen
dieser sich gerade um einen Patienten kümmerte oder sonstwie abgelenkt war. Es ist in jedem Fall eine verwerfliche Tat. Ich hoffe, dass die Schuldige die schwerste Strafe erhalten wird, die das Gesetz für solche Fälle vorsieht, zur Abschreckung für jede andere Person, die sich versucht fühlt, sich auf Kosten derer zu bereichern, für deren Wohl sie zu sorgen hat!«
»Vielleicht handelt es sich einfach um Verschwendung«, bemerkte Phillips, der mit großen Augen von Thorpe zu Robb blickte. »Es ist nicht ganz einfach, Pulver exakt abzumessen. Annäherungsweise natürlich, aber bei ein paar Dutzend Dosen kann schon mal ein bisschen was zusammenkommen. Haben Sie diese Möglichkeit schon in Erwägung gezogen, Sir?«
»Deswegen könnte man niemanden erpressen«, erwiderte Robb ein wenig widerstrebend. »Es muss mehr dahinter stecken. Wenn die Diebstähle in der Vergangenheit heute nicht mehr nachzuweisen sind, würden Sie dann bitte Ihre gegenwärtigen Vorräte überprüfen und genau mit den Mengen vergleichen, die in Ihren Büchern eingetragen sind?«
»Selbstverständlich.« Phillips hatte in dieser Hinsicht kaum eine andere Wahl – ebenso wenig übrigens wie Robb.
Sie warteten schweigend, während Phillips seine Schränke durchsah, wog, zählte und abmaß, während Thorpe ihn ungeduldig, Callandra ihn ängstlich und Robb ihn beklommen beobachtete.
Hester fragte sich, ob Robb auch nur die leiseste Ahnung hatte, dass das Leiden seines Großvaters mit eben diesen Medikamenten gelindert worden war, Medikamenten, die nicht aus Habgier, sondern aus Barmherzigkeit gestohlen worden waren, von Cleo Anderson, die er jetzt des Mordes an Treadwell überführen wollte. Sie blickte in sein ernstes Gesicht und sah Mitleid darin, aber keinen Zweifel, keinen Konflikt… noch nicht.
War Cleo schuldig? Wenn Treadwell ein Erpresser war, war es möglich, dass Cleo lieber ihn opfern wollte als die Patienten, die sie behandelte?
»Beim Chinin scheint ein wenig zu fehlen«, bemerkte Phillips, als sei das nicht weiter wichtig. »Möglich, dass dem Ungenauigkeiten beim Abmessen zugrunde liegen. Oder vielleicht hat jemand in einem Notfall ein paar Dosen entnommen und vergessen, sie einzutragen.«
»Wie viel fehlt?«, fragte Thorpe mit düsterer Miene.
»Verdammt noch mal, Mann, Sie können sich doch sicher genauer ausdrücken! Was meinen Sie mit ›ein wenig‹? Sie sind Apotheker! Man verabreicht einem Patienten nicht ›ein wenig‹ von einem Medikament!«
»Es fehlen ungefähr dreißig Gramm, Sir«, antwortete Phillips leise.
Thorpe lief dunkelrot an. »Gütiger Gott! Das ist genug, um ein Dutzend Männer zu behandeln! Wir haben es wahrhaftig mit einem schweren Vergehen zu tun. Stellen Sie fest, was sonst noch fehlt! Sehen Sie sich das Morphium an.«
Phillips gehorchte. Die Differenz beim Morphium war noch größer, was Hester nicht überraschte. Morphium wurde gegen Schmerzen verwendet, Chinin gegen Fieber. Cleo musste es im Lauf der Jahre häufig genug unter ärztlicher Aufsicht gegeben haben, sodass sie genau wissen konnte, wie viel sie wann zu verabreichen hatte. Hester selbst wäre dazu jedenfalls in der Lage gewesen.
Thorpe wandte sich an Robb. »Ich bedaure, Sergeant, aber wie es aussieht, haben Sie vollkommen Recht. Uns fehlen Medikamente in beträchtlicher Menge, und es ist ausgeschlossen, dass wir es hier mit reinen Zufallsdiebstählen zu tun haben. Es muss eine unserer Schwestern sein.«
Hester wollte darauf hinweisen, dass es jemand sein musste, der während der letzten Jahre zum Fachpersonal gehört hatte, aber sie wusste, dass dieser Einwand sinnlos gewesen wäre. Thorpe würde es nicht einmal in Erwägung ziehen, dass einer der Ärzte etwas Derartiges tun könnte, und sie wollte auf keinen Fall versuchen, die Schuld Phillips in die Schuhe zu schieben.
Vielleicht war es Cleo Anderson… Tatsächlich hatte Hester, wenn sie ehrlich war, keinen Zweifel daran. Sie hatten lediglich die Motive für ihren Diebstahl bisher falsch gedeutet, und Hester wollte die Männer nicht darauf aufmerksam machen, denn für die Anklage würden Cleos Beweggründe keine Rolle spielen.
Wer würde jetzt, da Cleo im Gefängnis war, für die Alten und Kranken sorgen, denen sie mit den gestohlenen Medikamenten ein wenig Linderung verschafft hatte? Und vor allem, was sollte aus John Robb werden?
Callandra reichte Robb die Liste, in die sie eingetragen hatte, welche Medikamente verschwunden waren und in welchen Mengen. Der Sergeant nahm
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