In feinen Kreisen
auch die Krim vergessen sein. Die Soldaten, die dort gekämpft haben und vielleicht Arme und Beine verloren haben, sind noch jung und deshalb kümmert man sich um sie. Aber im Alter sind sie uns dann egal. Wir sagen, die sterben ja doch irgendwann. Welchen Sinn hat es, Geld für diese Leute auszugeben?«
Hester konnte ihr nicht widersprechen, auch wenn es nicht in allen Fällen so war.
»Was ist mit John Robb, der als Seemann die Schlacht bei Trafalgar miterlebt hat?«, fragte Hester. »Sein Husten hört sich an, als ob er Schwindsucht hätte.«
Cleo nickte. »Ich glaube nicht, dass er noch lange durchhält. Sein Enkel tut alles für ihn, aber das ist nicht viel. Er kann ihm ohne das Morphium keine Linderung verschaffen.« Sie sah sie bittend an.
Hester wusste, was das bedeutete. Sie würde ihm das Morphium selbst geben müssen und damit in den Diebstahl verwickelt werden. Aber wenn sie Cleos Bitte abschlug, würde das Leiden des alten Mannes noch unerträglicher werden, und er würde sich erst recht im Stich gelassen fühlen.
»Ja, selbstverständlich.« Die Worte kamen über ihre Lippen, noch bevor sie darüber nachgedacht hatte, worauf sie sich da einließ.
»Ich danke Ihnen«, sagte Cleo leise. »Und ich hätte tatsächlich gern die Seife und den Löffel, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
»Selbstverständlich.« Viel mehr lag ihr der Wunsch am Herzen, Cleo bei ihrer Verteidigung zu helfen. »Haben Sie einen Anwalt, der Sie vertritt?«
»Ein Anwalt? Was könnte der schon sagen? Es würde keinen Unterschied machen.« Ihre Stimme war ausdruckslos. Sie wirkte plötzlich verschlossen und Hester gegenüber distanziert. Versuchte Cleo immer noch Miriam Gardiner zu schützen? Oder war sie tatsächlich schuldig und glaubte, dass sie es verdiene zu sterben?
»Haben Sie Treadwell getötet?«, fragte Hester unvermittelt. Cleo zögerte, wollte etwas sagen, änderte dann aber ihre Meinung und schwieg.
»Hat er Sie erpresst?«
Cleo seufzte. »Ja, natürlich hat er das. Der hätte für Geld so ziemlich alles getan.«
»Ich verstehe.« Hester war fest entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Cleo zu helfen, es ging nur noch darum, sich eine Strategie zurechtzulegen. In ihrem Kopf war bereits der Name Oliver Rathbone aufgetaucht.
Cleo umfasste Hesters Handgelenk mit einem so harten Griff, dass sie erschrocken zusammenfuhr. »Erzählen Sie es nicht dem Sergeant!«, bat sie eindringlich. »Es würde für ihn nichts ändern, und…« Sie blinzelte, und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, »und sagen Sie dem alten Mr. Robb nicht, warum ich nicht zu ihm komme. Erfinden Sie eine Ausrede… irgendetwas. Vielleicht ist er, wenn ich vor Gericht gestellt werde, bereits… nun, vielleicht braucht er es nie zu erfahren.«
»Ich werde ihm vielleicht sagen, dass Sie sich um eine Verwandte kümmern müssen oder etwas in der Art«, versprach Hester.
»Das ist gut, ja«, erwiderte Cleo dankbar.
»Ich komme wieder und bringe Ihnen die Seife«, versprach sie. »Und den Löffel.« Dann ging sie zur Tür und klopfte kräftig dagegen, damit der Wärter sie hinausließ.
Was sie als Nächstes tun musste, würde wahrscheinlich das Schwierigste von allem sein, und auch das, wovor sie am meisten Angst hatte.
Aber es gab kein Entrinnen für sie. Ganz abgesehen davon, dass sie John Robb mochte, hatte sie Cleo ihr Wort gegeben. Sie hatte versucht, sich einen Plan zurechtzulegen, aber so vieles hing einfach davon ab, dass sich eine günstige Gelegenheit bot. Der Versuch, Phillips’ Schlüssel zu stehlen, war praktisch aussichtslos und außerdem unfair ihm gegenüber.
Wie lange würde es dauern, bis ein Notfall eintrat, bei dem die Apotheke offen und unbewacht sein würde? Eine Chance, dass Phillips dort war, ihr aber den Rücken zukehrte? Sie war plötzlich wütend auf sich selbst, weil sie vergessen hatte, Cleo zu fragen, wie sie es angestellt hatte, an die Medikamente zu kommen.
Sie stand noch immer mitten im Korridor, als Kristian Beck auf sie zukam.
»Hester?«, fragte er besorgt. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Sie nahm sich zusammen und begann ihm eine Idee darzulegen, die in ihren Gedanken noch nicht ganz Gestalt angenommen hatte. »Ich habe mich gefragt, wie Cleo Anderson es bewerkstelligt hat, das Morphium zu stehlen. Phillips ist doch wirklich sehr vorsichtig. Ich meine, was glauben Sie, wie sie vonstatten gegangen ist, die praktische Abwicklung der Diebstähle?«
Er runzelte die Stirn. »Ist das
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