In feinen Kreisen
nur konnte. Tatsächlich schien ihn die ganze Situation in große Verlegenheit zu stürzen, und Hester konnte an seinem Verhalten nicht ablesen, ob er Cleo für schuldig hielt oder nicht. Es hatte sich jedoch herumgesprochen, dass sie beschuldigt wurde, einen Erpresser getötet zu haben, und er hatte eine sehr niedere Meinung von solchen Leuten, sodass er vielleicht den Tod eines solchen Mannes nicht allzu beklagenswert fand.
Die Zellentür fiel schwer ins Schloss und jagte Hester einen kalten Schauder über den Rücken. Sofort standen ihr wieder jene schrecklichen Tage in Edinburgh vor Augen, als sie sich in der gleichen Lage befand wie Cleo jetzt – allein und des Mordes angeklagt. Auch sie hatte damals den Tod vor Augen gehabt.
Cleo sah sie überrascht an. Ihr Gesicht war blass, und der Ausdruck ihrer weit aufgerissenen Augen zeigte, dass sie unter Schock stand, aber dennoch schien sie sehr gefasst zu sein. Hester konnte sich nicht daran erinnern, genauso empfunden zu haben. Aber andererseits war sie für Mary Farralines Tod auch nicht verantwortlich gewesen.
Selbst wenn Cleo Treadwell getötet und er sie wegen der Medikamente erpresst hatte, so wäre es doch eine höchst verständliche Tat gewesen. Nicht entschuldbar vielleicht, aber gewiss würde Gott ihr verziehen haben.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Hester. »Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Kleider, Seife, ein sauberes Handtuch, besseres Essen? Möchten Sie vielleicht Ihren eigenen Löffel haben? Oder eine Tasse?«
Cleo lächelte schwach. Die praktische Natur der Vorschläge stand in krassem Gegensatz zu dem, was sie erwartet hatte, nämlich Wut, Empörung, Mitleid oder Neugier. Sie sah die andere Frau verwirrt an.
»Ich war selbst einmal im Gefängnis«, erklärte Hester. »Ich habe die Seife und die rauen Handtücher gehasst. Und ich hätte gern meinen eigenen Löffel gehabt. Daran erinnere ich mich noch ganz genau.«
»Aber sie haben Sie laufen lassen…« Cleo sah die Angst in ihrem Gesicht und welche Mühe sie hatte, nicht die Fassung zu verlieren. »Und sie haben doch auch Miriam laufen lassen? Geht es ihr gut?«
Hester setzte sich auf den Stuhl und beugte sich ein wenig vor. Sie konnte Cleo immer besser leiden, je häufiger sie ihr begegnete. Ihr Kummer ging ihr nahe. »Ja, sie haben sie freigelassen.«
»Ist sie nach Hause gegangen?« Sie sah Hester eindringlich an.
»Nein… Man hat sie in die Obhut von Lucius und Major Stourbridge gegeben.« Sie forschte in Cleos Zügen nach etwas, das ihr helfen würde zu verstehen, warum Miriam sich so sehr vor diesem Schritt gefürchtet hatte.
»Geht es ihr gut?«, wiederholte Cleo voller Angst.
Es schien grausam, ihr die Wahrheit zu sagen, aber Hester wusste nicht genug über die Situation, um beurteilen zu können, welche Lügen am wenigsten Schaden anrichten würden.
»Nein«, antwortete sie. »Ich glaube nicht. Nach dem, was mein Mann mir erzählt hat, ging es ihr nicht besonders gut. Ihr wäre jeder andere Ort lieber gewesen als das Haus der Stourbridges – sogar das Gefängnis –, aber man hat ihr in dieser Hinsicht keine Wahl gelassen. Die Polizei konnte sie nicht länger festhalten, aber es war für alle Beteiligten offensichtlich, dass Miriam zutiefst aufgewühlt war, und da sie wahrscheinlich Zeugin des Verbrechens war, konnte die Polizei einen gewissen Einfluss darauf nehmen, wohin sie gehen sollte.«
Cleo schwieg. Sie starrte nur auf ihre Hände, die gefaltet im Schoß lagen.
Hester sah sie eindringlich an. »Wissen Sie, warum sie vom Cleveland Square weggelaufen ist und warum man sie beinahe mit Gewalt dorthin zurückbringen musste?«
Cleo blickte schnell auf. »Nein – nein, ich weiß es nicht. Sie wollte es mir nicht sagen.«
Hester glaubte ihr. Die Verwirrung und der Kummer in ihren Augen waren aufrichtig. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, ob Sie die Medikamente genommen haben oder nicht«, fuhr sie leise fort. »Ich weiß, dass Sie es getan haben, und ich weiß auch, warum.«
Cleo sah sie einige Sekunden lang nachdenklich an, bevor sie zu sprechen begann. »Was soll jetzt bloß aus ihnen werden, Miss? Es gibt niemanden, der sich um sie kümmert. Die, die Familie haben, sind besser dran als die anderen, aber selbst die können sich nicht das leisten, was sie brauchen, oder sie wissen gar nicht, was es ist. Sie werden alt und ihre Kinder ziehen weg und lassen sie allein. Die Jungen scheren sich doch heute nicht mehr um Trafalgar und Waterloo. In ein paar Jahren wird
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