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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Gonâve, vorbei an den auf bewaldeten Hängen erbauten Befestigungen von Saint Marc und weiter durch den Canal de Saint Marc zum französischen Kolonialdorf Arcahaie. Shandy ruderte das kleine Beiboot der Schaluppe ans Ufer, dann nahm er etwas von Philip Davies’ Gold, um sich die Haare schneiden zu lassen und sich einen Mantel und ein Halstuch zu kaufen, unter denen er sein zerlumptes Hemd verbergen konnte. Als er nun zumindest halbwegs vorzeigbar aussah, gab er einem schwarzen Bauern einige Münzen als Gegenleistung dafür, dass er ihm erlaubte, auf einer Wagenladung mit Kassaven und Mangos die achtzehn Meilen die Küste entlang mit in die Stadt Port-au-Prince zu fahren.
    Es war Spätnachmittag, als sie die Stadt erreichten, und die einheimischen Fischer kamen bereits an Land gerudert und zogen ihre einfachen Boote unter den schattenspendenden Palmen auf den Strand, bevor sie die schweren Strohkörbe und Bambuskäfige mit Krabben und Hummern davontrugen.
    Die Stadt Port-au-Prince erwies sich als ein Gitterwerk schmaler Straßen, die um einen zentralen Platz herum angeordnet waren. Der Platz und die meisten Straßen waren mit weißem Stein gepflastert, aber an den Geschäften und Lagerhäusern am Wasser konnte man die Steine unter einer Schicht aus Hunderten, nein, Tausenden brauner, plattgetretener Hülsen kaum noch ausmachen. Bevor er auf den belebten Platz hinaustrat, hob Shandy eine der Hülsen auf und roch daran; es war Zuckerrohr, und ihm wurde klar, dass dies die Quelle des widerwärtig süßen, halb fermentierten Geruchs war, der sich in der Nachmittagsluft mit dem gewohnten Gestank fauligen Fisches und den qualmenden Kochdünsten mischte, die allen Seehäfen gemeinsam sind. Er warf das Ding weg und fragte sich für einen Moment, ob es von den Plantagen Chandagnacs stammen mochte.
    Die meisten der Menschen auf dem Platz waren Schwarze, und mehrmals wurde er, während er sich dem amtlich wirkenden Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite näherte, höflich mit » Bon jou’, Blanc« – Guten Tag, Weißer – begrüßt. Er nickte jedes Mal freundlich, und einmal, als ein junger Schwarzer seinem Begleiter in einer Mischung aus Dahomey und Patois etwas zumurmelte, was sich auf Shandys unsägliche Manschettenknöpfe bezog, konnte er im gleichen Patois mit einem Sprichwort antworten, das besagte, es seien wohl jede Art von Manschetten oder auch gar keine den eisernen vorzuziehen. Der junge Mann lachte, starrte aber neugierig hinter Shandy her, und er begriff, dass er sich hier in Acht nehmen musste. Hier war er wieder zurück in der Zivilisation, hier war nicht New Providence.
    Auf der Hut vor jeder Art von Gesetzeshütern – denn es war möglich, dass die englischen Behörden den Franzosen von John Chandagnac erzählt hatten, der vor weniger als einem Monat Beihilfe zur totalen Vernichtung eines Kriegsschiffs der Royal Navy geleistet und dessen Kapitän erschossen hatte – fragte Shandy einen Kaufmann, wohin er gehen solle, um Fragen zu einem Nachlass und hiesigen Besitzrechten zu klären, und der Mann schickte ihn zu einem der Regierungsgebäude am Platz.
    Ja, dachte er, während er in die ihm gewiesene Richtung ging, zuerst werde ich herausfinden, wo die Pflanzung liegt, und Onkel Sebastian einen Besuch abstatten. Nicht nötig, ihn von vornherein wissen zu lassen, wer ich bin, obwohl ich das definitiv ziemlich bald tun werde.
    Das Innere des Gebäudes sah aus wie jede europäische Amtsstube – mehrere Weiße arbeiteten an hohen Schreibpulten, an einer Wand standen in Leder gebundene Rechnungsbücher –, aber die tropische Brise, die die Spitzengardinen vor den hohen Fenstern bewegte, zerstörte die Illusion, und das Kratzen der Gänsekiele auf dem Papier klang so deplatziert wie der Ruf eines Papageien in der Threadneedle Street.
    Einer der Schreiber blickte auf, als Shandy eintrat. » Ja?«
    » Guten Tag«, sagte Shandy und versuchte zum ersten Mal seit zwei Monaten, sauberes Französisch zu sprechen. » Ich habe eine Frage, die, ähm, den Besitz Chandagnac betrifft …«
    » Seid Ihr noch einer der Angestellten? Wir können nichts tun, um Euch zu helfen, Eure Löhne zu bekommen.«
    » Nein, ich bin kein Angestellter.« Shandy bemühte sich um sein bestes Pariser Französisch. » Ich habe eine Frage – zum Besitztitel über Haus und Grundbesitz.«
    » Ah, ich verstehe, Ihr seid ein weiterer Gläubiger. Nun, soweit ich weiß, wurde alles verkauft; aber natürlich werdet Ihr mit dem Nachlassverwalter

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