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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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sich um. » Ja? Wo ist Hurwood? Es kümmert mich nicht, ob er krank ist. Er muss …«
    » Käpten«, unterbrach Skank ihn, » er ist tot.«
    Tränen des Zorns schossen Shandy in die Augen. » Tot? Was? Das ist er nicht, der Hurensohn, er kann nicht tot sein, er …«
    » Käpten, er ist kalt, und er atmet nicht – und er blutet nicht, wenn man ihn mit einem Messer piekst.«
    Shandy ließ sich gegen die Reling sinken und rutschte daran herunter, bis er auf Deck saß. » Gott verdamme den Mann«, flüsterte er schrill, » Gott verdamme ihn! Soll ich vielleicht an Land schwimmen und auf die Klippen klettern und diesen Hicks finden? Wie zur Hölle soll ich …« Er senkte den Kopf in die Hände, und mehrere Sekunden lang dachte der entsetzte Skank, er weine; aber als Shandy den Kopf hob und sprach, war seine Stimme harsch, doch ruhig.
    » Bring ihn trotzdem herauf.« Shandy stand langsam wieder auf, wandte sich Jamaika zu und dehnte seine steifen Hände. Der Himmel im Osten wurde heller – die Sonne würde sehr bald aufgehen.
    » Ähm … sicher, Käpten.« Skank wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. » Ähm … warum?«
    » Und ein paar feste, spannenlange Ersatzhölzer und eine Rolle Schnur, so fest und gleichzeitig so dünn wie möglich«, fuhr Shandy fort, ohne die Insel aus den Augen zu lassen. » Und eine …« Er hielt inne und schien zu würgen.
    » Und eine was, Kapitän?«, fragte Skank leise.
    » Eine spitze Segelmachernadel.«
    Welchen Sinn hatte es gehabt, Port-au-Prince zu verlassen, fragte Sebastian Chandagnac sich erregt, während er versuchte, es sich zwischen den Steinen und dem taubedeckten Gras bequem zu machen, wenn er in dieser neuen Identität als Joshua Hicks noch immer an einsamen Küsten herumschlich und im Morgengrauen auf Signale von Piratenschiffen wartete? Er fröstelte und zog seinen Mantel enger um sich, dann nahm er noch einen Schluck aus seiner Brandyflasche und wurde sowohl vom Alkohol gewärmt als auch vom Neid auf den Fahrer, der ein paar Dutzend Schritt hinter ihm in der Kutsche wartete.
    Er schaute stirnrunzelnd zum Horizont, dann versteifte er sich, denn er konnte draußen auf dem dunklen Antlitz des Meeres einen hellgrauen Punkt ausmachen. Er hob das Teleskop an die Augen und spähte hindurch. Ja, es war ein Schiff, groß und rahgetakelt. Außerstande, einstweilen mehr in Erfahrung zu bringen, ließ er das Teleskop sinken.
    Das muss er sein, dachte er. Welches andere Schiff würde am Weihnachtsmorgen vor Portland Point auftauchen? Er schaute zurück zu der Kutsche – der Fahrer wirkte verdrießlich, und eins der Pferde stampfte ungeduldig mit den Hufen und stieß eine Dampfwolke aus –, aber Hicks ging noch nicht zu ihnen zurück, denn Ulysse hatte ihm befohlen zu warten, bis er ihn tatsächlich auf Deck sah. » Es ist vielleicht mein Schiff«, hatte Segundo gesagt, mit diesem Lächeln, das, wenn auch wohlgelaunt, zu viele Zähne zu entblößen schien, » aber ich bin vielleicht nicht darauf – oder man hat mich möglicherweise irgendwo festgesetzt oder sogar getötet, sodass ich erst nach Weihnachten werde zurück sein können. Und die … Austreibungsmagie muss an Weihnachten gewirkt werden. Also richtet Euch darauf ein, es selbst zu machen, es sei denn, Ihr seht mich winken.«
    Sei an Bord, betete Chandagnac jetzt, sei an Bord und winke. Ich will mit dem Kram nichts zu tun haben. In dem Moment kam ihm der Gedanke, dass er hier auf dieser kalten Klippe glücklicher war, als er es zu Hause gewesen wäre, denn gestern Abend hatte die Furcht einflößende schwarze Krankenschwester mit den Vorbereitungen für diese Magie begonnen: Sie hatte Käfer und Schlangen im Kamin verbrannt – unempfindlich gegen deren viele Stiche und Bisse – und dann sorgfältig die Asche aufgesammelt und ein paar Löffel voll davon über ein Häuflein von Blättern und Wurzeln geschüttet, die das Essen des gefangenen Mädchens gewesen waren; sie hatte mindestens ein Dutzend kleiner Blechflöten gestimmt und getestet; hatte in verschiedene schmutzige alte Flaschen geflüstert und sie dann sofort verkorkt, als wolle sie die geflüsterten Worte darin festhalten; und das Schlimmste von allem – und dies hatte Chandagnac veranlasst, hinauszustürmen, um seinen Termin auf dem Kliff viel früher als notwendig anzutreten –, sie hatte mit einer Rasierklinge eine Ader in ihrem knochigen Handgelenk geöffnet und etwas daraus in einem Becher aufgefangen, aber es war kein Blut gewesen oder

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