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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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war, sackte schlaff zusammen, und der so lange abgewehrte Regenbogenglanz der Bewusstlosigkeit füllte endlich sein Gesichtsfeld aus und überwältigte ihn. Seine Hände rutschten von dem vor Blut schlüpfrigen Führungskreuz ab, das er sich gemacht hatte, und eine ruhte für einen Augenblick auf der Rah vor ihm, bevor sie nur noch schlaff an seiner Seite herabhing. Dadurch nahm die lebensgroße Marionette an Deck plötzlich eine überraschende Haltung ein. Hurwoods Leichnam wurde von den starken Führleinen zwar noch mehr oder weniger gehalten, aber er hatte sich jetzt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zurückgelehnt, grinste zuversichtlich gen Himmel und streckte das linke Bein gerade vor und hob es deutlich über den Kopf – wie ein Tänzer, der in einem besonders energischen Moment seiner Bewegung eingefroren worden war.
    Sekundenlang starrten die Piraten dieses Wunder an, dann bekreuzigte einer sich, zog sein Entermesser und durchschlug die gespannten Schnüre, die durch Hurwoods Rückgrat, Kopfhaut, Gliedmaßen und linke Hand genäht waren. Die plötzlich von ihrer Last befreiten Schnüre flogen in die Höhe, peitschten Shandy über die Wange; Hurwoods Kopf fiel lose zurück, und der ganze Leichnam polterte aufs Deck. Mit einem Summen von Zwirn, der oben über die Rah gezogen wurde, kam das Führungskreuz herunter und krachte einen Augenblick später neben dem Toten auf die Planken. Der Körper war wie eine zerbrochene Puppe auseinandergefallen; die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, als Shandy sein Werk begonnen hatte, und er hatte einige Arbeit mit der Säge gehabt, bevor Nadel und Zwirn an die Reihe gekommen waren.
    Von dem auf seine Wange klatschenden Zwirn wieder zu Bewusstsein gekommen, blinzelte Shandy und versuchte, sich aufzurichten und sein Gewicht von dem Tau zu nehmen, das unter seinen Armen mehrfach durchgezogen worden war.
    » Werft dieses Ding über Bord«, sagte Skank unter ihm und deutete an Deck auf Hurwoods missbrauchten Leichnam.
    » Nein!«, schrie Shandy und verlor vor Anstrengung beinahe erneut das Bewusstsein.
    Die Piraten starrten zu ihm empor.
    » Nicht … seine Leiche«, ächzte Shandy und versuchte, einen Fuß wieder auf die Rah zu bekommen, » und auch kein Tropfen – zum Teufel mit diesem Seil! – von seinem Blut darf in die See gelangen.« Endlich stand er wieder auf den Füßen, richtete sich auf, atmete mehrmals tief durch und schaute dann hinab. » Ihr versteht mich? Er muss verbrannt werden, wenn ihr mich an Land gebracht habt.«
    » An Land«, wiederholte ein alter Pirat erschöpft. » Du willst an Land gehen.«
    » Natürlich tue ich das«, knurrte Shandy. Er nestelte erfolglos an dem Knoten in dem Tau, das ihn am Mast hielt, aber er sah kaum noch etwas, und seine Hände bluteten. » Irgendjemand hier herauf, der mir nach unten hilft. Ich muss …« Er spürte, wie erneut Bewusstlosigkeit drohte, aber er wehrte sie ab. » Ich muss zu einer Abendgesellschaft.«
    Die Carmichael brauchte mehrere Stunden, um das Südende der Hafenbucht von Kingston zu erreichen, weil sie den Wind genau von vorn hatten. So blieb Shandy reichlich Zeit, sich seinen graumelierten, vom Salz steifen Bart abzurasieren, einige von Hurwoods Kleidern anzuziehen und ein paar Ziegenlederhandschuhe über seine bandagierten Hände zu streifen.
    Die Sonne stand hoch am Himmel, als er endlich über den Mastenwald des Hafens zu den roten Dächern der Stadt aufschaute, hinter denen sich die purpurnen und grauen Berge erhoben. Es kam ihm in den Sinn, dass er endlich Kingston sah, und sogar vom Deck der Carmichael aus … wenn auch mit sechs Monaten Verspätung. Er erinnerte sich daran, wie er und Beth Hurwood verfrüht das unmittelbar bevorstehende Ende der Reise gefeiert hatten, indem sie einer Möwe von Maden durchsetzten Schiffszwieback zugeworfen hatten, und wie er geplant hatte, an diesem Abend an Land mit Kapitän Chaworth zu dinieren.
    Er ließ den Rudergänger beidrehen und wandte sich zu Skank um. » Lass sie Hurwood einwickeln und in das Boot legen. Und lass es vorsichtig wegfieren. Jetzt brauche ich jemanden, der mich an Land rudert. Danach lauft ihr mit der Carmichael zurück, bis ihr südlich von Wreck Reef steht, und wartet dort auf uns … und wenn wir morgen bis Mitte des Vormittags nicht wieder auf dem Schiff sind, segelt ihr los – dann sind wir wahrscheinlich gefangen genommen worden, und angesichts der vielen Navyschiffe hier wird die Carmichael von Stunde zu Stunde in größerer

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