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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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riss sie aus ihrer Trance. Sie sprang auf und blickte zuerst auf ihre gestochene Hand und sah dann in den Kasten, den ihr Vater hielt und in den jetzt ihr Blut tropfte. Sie kreischte wild, zuckte zurück und kroch auf allen Vieren den schlammigen Hang hinauf.
    Shandy lief hinter ihr her und holte sie nach einigen Schritten ein. Er legte ihr den Arm um die zuckenden Schultern und schüttelte sie sanft. » Es ist vorbei, Beth«, stieß er hervor. » Eure Hand ist verletzt, aber wir leben, und ich denke, wir kehren jetzt zurück. Das Schlimmste ist …«
    » Es ist der Kopf meiner Mutter!«, schrie Beth. » Er hat den Kopf meiner Mutter in diesem Kasten!«
    Shandy wandte sich entsetzt um. Hurwood setzte sich in den Schlamm, um den Holzdeckel wieder auf den Kasten zu schieben, und ein Ausdruck beinahe schwachsinniger Befriedigung ließ sein altes Gesicht aufleuchten, während Friend einfach nur hungrig Beth betrachtete, die Hände immer noch in der Position erhoben, in der sie gewesen waren, als er sie festgehalten hatte. Aber Davies und sogar Schwarzbart starrten den einarmigen Mann voller Erstaunen und Abscheu an.
    Beth Hurwood war nach ihren Schreien verstummt und etwa fünf Sekunden lang sprach oder bewegte sich niemand. Dann stand Hurwood auf. » Zurück«, sagte er. » Zurück zum Meer.« Er war jetzt so munter und wohlgelaunt, dass es schien, als hätte er Mühe zu sprechen.
    Sie alle stolperten erschöpft wieder den Hang hinauf, und als der Boden eben wurde, legte Shandy erneut den Arm um Beth und führte sie weiter, obwohl sie seine Gegenwart nicht einmal mit einem Blick zur Kenntnis nahm.
    Die Brücke war fort. Hurwood führte sie einen ausgefahrenen Weg zwischen Heideflächen entlang, unter einem Himmel, der Regen versprach. In der Ferne erhoben sich Berge, und als Shandy sich umblickte, sah er ein paar alte, beinahe fensterlose Steinbauten hinter einer Mauer – ein Kloster vielleicht oder ein Konvent –, und als er die Augen zusammenkniff, sah er, dass auf der Mauerkrone über dem geschlossenen Tor eine schlanke, langhaarige Gestalt stand.
    Er war außerstande, der jungen Frau, die wie leblos neben ihm herstapfte, irgendeine Reaktion zu entlocken. Aber er hob, den Blick immer noch zurückgewandt, die freie Hand und winkte, und die Gestalt auf der Mauer winkte zurück – dankbar, dachte er.

Kapitel 15
    Hurwood und Friend führten sie zurück zu der mit dunklem Sand bedeckten Ebene, wo sie sich die immer noch heißen Stiefel und Messer wiederholten, und dann benutzten die beiden Zauberer erneut die Lampe mit der geschnitzten Haube, um den Weg zurück zu der brennenden Fackel zu finden, die Hurwood im Sand hatte stecken lassen. Eine Weile später befanden sie sich wieder in der normalen Welt. Der düstere Dschungel Floridas wirkte jetzt auf Shandy beruhigend diesseitig, und er kostete die Gerüche des Sumpfs aus wie ein Mann, den man zu den grünen Wiesen seiner Jugend zurückgebracht hatte.
    Nachdem er Davies und dem leer dreinblickenden Bonnett geholfen hatte, alle Fackeln zu entzünden, die Boote zurück in tieferes Wasser zu schieben und sie dort umzudrehen, nahm er Beth am Arm und führte sie über den federnden Moorboden zu dem Boot, das er und Davies benutzt hatten. » Ihr fahrt auf dem Rückweg mit uns«, erklärte er entschieden.
    Hurwood hörte seine Worte und reagierte voller Leidenschaft, brachte aber einige Sekunden lang nur wahllose, infantile Vokale hervor. Als er sich dessen bewusst wurde, schloss er die Augen, konzentrierte sich und begann dann von Neuem. » Sie – wird – bei – mir – bleiben«, sagte er Shandy.
    Hurwoods Beharrlichkeit erschreckte Shandy. Er hatte geglaubt, Hurwoods Plan durchschaut zu haben, aber jetzt schien es, als stecke mehr dahinter, als er vermutet hatte. » Warum?«, fragte er bedächtig. » Ihr habt jetzt keine weitere Verwendung mehr für sie.«
    » Falsch, Junge«, stieß Hurwood mit erstickter Stimme hervor. » Habe hier – wie sagt man noch gleich? – bloß den Hahn gespannt. Werde den Schuss zur nächsten Jul… Weihnacht abfeuern. Margaret bleibt bei … ich meine … sie … das Mädchen bleibt in der Zwischenzeit bei mir.«
    » R-richtig«, warf Friend ein, und seine vorspringende Unterlippe glänzte. » W-w-wir w-werden vor-vor-vor…« Er gab den Versuch zu sprechen auf und ruckte lediglich mit dem Kopf in Richtung des Bootes, in dem Bonnett bereits saß.
    Plötzlich begriff Shandy, was Hurwood möglicherweise plante – und sobald ihm der Gedanke

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