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In Furcht erwachen

In Furcht erwachen

Titel: In Furcht erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Cook
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Janette hatte eine individuelle, ganz besondere Schönheit. Sie war lieblich, geschmeidig und würdevoll. Und sie war sehr
    nahe.
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    «Würden Sie gern einen Spaziergang machen?» fragte
    er, lächelte zu ihr herab und hoffte, sein Gesicht sei eine Maske aus attraktivem Leiden.
    Irgendwie bekam er den Eindruck, daß sein Vorschlag
    gar nicht seine eigene Idee war, sondern Ausdruck ihrer Absichten. Vielleicht war er doch völlig betrunken.
    Dann stand er an Janettes Seite im Wohnzimmer, und
    sie sagte:
    «Daddy, John und ich machen einen Spaziergang.»
    Die drei Männer sahen sie begriffsstutzig an, und einer der Minenarbeiter wirkte verärgert, aber das war egal, weil sie gleich darauf die Straße entlanggingen. Er war mit Janette allein in der Nacht, und der Mond verzauberte sogar den Staub.
    Irgendwo in den stillen Winkeln seines sich drehenden
    Bewußtseins wußte er, daß das alles etwas zu einfach lief.
    Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte er keinen Eindruck auf
    Janette gemacht. Er erinnerte sich nicht, wann genau er sie für sich gewonnen hatte, aber sie schien nicht viel gesagt zu haben. Und nun lag ihre Einwilligung in der Luft in der Art, wie sie ging und wie sie zuließ, daß er ihre Hand nahm.
    Aber warum sollte sie einwilligen? Wer war dieses
    große dunkle Mädchen, das hier mit ihm über die Grenzen dieser unzivilisierten Stadt hinausspazierte?
    Sie verließen die Straße.
    Wer hatte diesen Schritt eingeleitet? Grant hielt seine
    Sinne fest beisammen und betrachtete das Mädchen an sei‐
    ner Seite. Sie wirkte zielstrebig; sie wirkte ... wie wirkte sie denn? Und warum war sie so still?
    Der Boden, auf dem sie gingen, war hart und staubig,

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    Ödland zwischen einer der Minen und der Stadt. Im Mond‐
    licht warfen sie große, lange Schatten.
    Grant sah das Mädchen erneut an, aber er spürte, daß
    ihm die Kontrolle entglitt und sich seine Gedanken wieder auf ihren betrunkenen Rundkurs machten.
    Es war sehr still dort draußen − die Vegetation war zu spärlich für Insekten −, und das einzige Geräusch waren ihre Schritte auf dem Staub. Grant wurde bewußt, daß
    sie mindestens fünf Minuten lang kein Wort gewechselt
    hatten.
    «Sie sind sehr ... still», sagte er.
    «Bin ich das?» Ihre Stimme klang noch tiefer, fast heiser, und sie verstörte ihn.
    Sie sagte nichts mehr und ging jetzt so dicht neben ihm, daß sich ihre Köpfe fast berührten. Er konnte nicht mehr scharf sehen, und es war, als habe sie zwei Profile.
    Ihre Augen waren glasig, ihr Mund stand offen. Sie sah geradeaus und führte ihn schnellen Schrittes an der Hand.
    Grant befürchtete mit einemmal das Schlimmste, und
    er wußte mit Sicherheit, daß es nicht gut war, derart betrunken zu sein. Etwas von der Intensität, die das Mädchen
    gepackt hatte, übertrug sich auf ihn, während sie mit ange‐
    spanntem Körper vorwärtsstrebte. Sie spazierte nicht ein‐
    fach so, sie hatte ein Ziel.
    Der Instinkt, vorsichtig zu sein, ließ ihn sagen: «Macht sich Ihr Vater keine Sorgen, wenn wir zu lange draußen bleiben?» Das klang selbst in seinen Ohren lächerlich.
    Sie erreichten eine kleine Mulde, in der das niedrige
    Gebüsch eine Art Hecke bildete, in der Mitte ein Stück frei‐
    ließ.
    Nun war es nicht mehr ein bloßer Verdacht; Grant
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    wußte, daß Janette ihn hierhergeführt hatte. Und er wußte auch, warum. So betrunken konnte niemand sein.
    Sie schlüpfte durch das Gebüsch auf die freie Stelle, und er folgte ihr.
    Einen Moment hielten sie inne und standen nebenein‐
    ander, zwei große, schmale Gestalten im Licht des Mondes,
    zwischen der Mine und der Stadt.
    Die Dringlichkeit schien von ihr gewichen zu sein; sie
    Heß sich auf die nackte Erde sinken und legte sich auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Grant
    stand einen Moment lang über ihr und spürte, daß er etwas
    sagen sollte, dann setzte er sich neben sie.
    Ihre Augen waren geschlossen, sie atmete tief. Er strich ihr probehalber mit der Hand übers Gesicht, und sie bewegte den Kopf, so daß seine Finger ihre geöffneten Lippen
    berührten.
    «Weißt du, du bist sehr ... schön», sagte er, aber das höhnische Lächeln, das sich auf ihren Lippen ausbreitete, als er die Worte aussprach, gefiel ihm nicht. Vielleicht war es doch besser, den Mund zu halten.
    Er nahm seine letzte Zigarette heraus, steckte sie an und bemerkte, daß sich Janette bewegt hatte. Ihr Kopf lag jetzt auf seinem Oberschenkel.
    Grant schaute in den Himmel hinauf und gab

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