In Gedanken bei dir (German Edition)
bisschen besser ging. Jolie kann mir das verzeihen. Ich selbst kann es
nicht.
Sie ist gerade wach
geworden. Jolie schaut mich jetzt an und lächelt. Und ich frage mich, ob wir
uns gerade zum letzten Mal ansehen. Cassie legt sich jetzt neben sie aufs Bett
und nimmt sie ganz behutsam in die Arme. Sie küsst Jolie, legt die Hand auf ihr
Herz und flüstert ihr zu, wie sehr wir sie lieben, und dass wir immer für sie
da sind. Auch wenn sie über die Wolken tanzt, auf dem Mond schaukelt und die
Sterne fängt – so stellt Jolie sich den Tod vor. Und so will ich meine Kleine
in meinem Herzen bewahren.
Alex
1.
November 2012
Zwei
Uhr morgens
Ich
bin müde, und ich zittere vor Angst, vor Traurigkeit, vor Erschöpfung. Ist dies
die letzte Nacht? Mit Tränen in den Augen sitzen Alex und ich an Jolies Bett.
Wir halten ihre Hand. Wir streicheln ihre offenen Wunden. Wir reden mit ihr,
damit sie weiß, dass sie nicht allein ist. Ich erinnere sie an die schönen
Dinge, die ich mit ihr erlebt habe, und Alex erzählt ihr von denen, die er mit
ihr noch erleben will. Eine Radtour, ein Tauchausflug, eine ausgelassene
Schneeballschlacht im Yosemite Valley. Aber hört sie uns überhaupt noch? Weiß
sie, dass Mommy und Daddy sie keinen Augenblick allein lassen? Seit sie ins
Koma gefallen ist, wird sie durch eine Maschine beatmet, und dieses
schreckliche Geräusch, dieser keuchende Atem des Todes, wird mich zeit meines
Lebens verfolgen.
Fünf
Uhr dreißig
Jolies
Hände und Füße fühlen sich kalt an. Das kommt von dem Medikament, das ihren
Blutdruck aufrecht erhält. Ich habe ihr ein Buch vorgelesen, Sieben Minuten
nach Mitternacht . Es ist eine wundervolle Geschichte über das
Loslassen, das Alex und mir so schwer fällt wie Jolie. Aber wir haben uns entschieden,
sie nicht wiederzubeleben, wenn es zum Herzstillstand kommt. Wir lassen sie
gehen, wenn es soweit ist. Wir halten ihre Hand und führen sie auf die andere
Seite.
Sieben
Uhr dreißig
Jolie
wird heute sterben. Ihre Werte werden immer schlechter. Ich stehe an ihrem Bett
und erinnere mich an my funny little girl, wie es war, bevor es krank wurde:
kichernd, strahlend, glücklich. Ein hübsches Mädchen mit langem blondem Haar.
Wenn Jolie lächelte, konnte man gar nicht anders als zurücklächeln. So möchte ich
sie für immer in Erinnerung behalten. Ich möchte mich daran erinnern, dass wir
einmal glücklich waren. Sind es nicht diese kurzen Momente, die ein ganzes
Leben ausmachen?
Neun
Uhr
Nichts
ist für Eltern schlimmer als der Tod des eigenen Kindes. Das Leid und der
Schmerz sind unvorstellbar, bis du gelähmt vor Entsetzen am Sterbebett deiner
Kleinen stehst. Jolies Blutdruck fällt weiter, und mit ihm unser Mut. Alex
sieht verzweifelt aus. Unendlich traurig. Und unermesslich schuldig. Er hat das
Gefühl, dass er unsere Kleine zu Tode gequält hat. Und er sucht nach einer
Möglichkeit, sein und ihr Leiden zu beenden. Aber es gibt keine. Doch, eine,
nur eine: Abschalten.
Vierzehn
Uhr dreißig
Karen
ist gekommen. Sie sitzt eine Weile bei uns. Dann redet sie mit mir, und sie
sieht ernst und besorgt aus. Ich soll für eine Stunde nach Hause fahren. Ich
soll mich besinnen und durchatmen. Ich soll in Jolies Kinderzimmer in ihren
Kuscheltieren stöbern, und dann soll ich die Babysachen sortieren, die mir
meine Freunde in aller Welt geschickt haben. Die süßen Strampler mit Kapuze,
die winzigen gestrickten Schühchen. Ich soll mich darauf besinnen, dass ich
noch ein Kind habe, um das ich mich kümmern muss. Und noch etwas hat Karen mir
mit auf den Weg gegeben, einen undenkbaren Gedanken: Ich soll mich mit der
Vorstellung auseinander setzen, dass ich, wenn mein Kind gestorben ist, ein
Gefühl der Erleichterung empfinden könnte. Wie will ich damit umgehen? Noch ein
Gedanke: Stirbt ein Kind, zerbricht eine Familie. Alex und ich werden leiden.
Unser Baby wird in einer Zeit tiefer Trauer geboren werden. Aber für seinen Weg
ins Leben braucht es unsere Aufmerksamkeit, unsere Gelassenheit und
Zärtlichkeit, unsere Liebe, unsere Kraft. Karen wird mit Alex an Jolies Bett
sitzen, bis ich wieder da bin. Sie wird mich anrufen, wenn es so weit ist. Soll
ich mein sterbendes Kind wirklich allein lassen? Soll ich auch nur einen dieser
wertvollen letzten Augenblicke mit ihr verpassen?
Sechzehn
Uhr
Leben
ohne dich, Jolie – wie soll das gehen?
Cassie legte den Stift weg.
Erschöpft
ließ sie sich in den Verandastuhl zurücksinken, zog die
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