In Gottes Namen
Burgos’ Keller. Sechs voneinander unabhängige Stellen. Riley hatte sie alle nachgeschlagen, ein Cop hatte eine King James Bibel in seinem Spind. Alle Zitate, bis auf eines, stammten aus dem Alten Testament und konnten auf irgendeine Weise den Bluttaten zugeordnet werden.
Im Buch Hosea hieß es über Ungläubige, Gott »zerreiße ihnen die Brust und das Herz« – oder öffnete ein Herz, das so grausam war, wie es in der ersten Zeile des Songs hieß. Im Römerbrief wurden Lesbierinnen erwähnt, die den Tod verdienten, was mit der »lesbian« im Song korrespondierte. Im Buch Levitikus war die Rede von unzüchtigen Frauen, die im Feuer verbrannt werden sollten; was im weitesten Sinne auch als Verbrennen mit Säure gedeutet werden konnte. Im Buch Exodus, in der berühmten Passage Auge um Auge, Zahn um Zahn, Glied um Glied, ging es um den gewaltsam herbeigeführten Abbruch einer Schwangerschaft – und der Song erwähnte eine »senior«, eine College-Studentin im letzten Jahr, über die gesagt wurde, sie wäre wieder rank und schlank, seit sie ihn losgeworden ist, was möglicherweise auf ein abgetriebenes Kind anspielte. Und das Buch der Könige forderte den Tod für all diejenigen, die einen Propheten verspotteten. Zwar war im Zusammenhang dieser Bibelpassage nicht von Ertränken die Rede, aber vermutlich hatte sich die im Song erwähnte »Nachbarstochter« über den Autor dieser Zeilen mokiert, der sich für eine Art Prophet hielt.
Fehlte der letzte Mord, der folgendermaßen beschrieben wurde: Jetzt muss sich jemand von seiner Familie verabschieden. Schieb’s zwischen die Zähne, und drück fröhlich ab. Der letzte Mord hatte im Song musikalisch eine andere Qualität; das Schlagzeug und der Bass setzten aus, und der Sänger trällerte den Text ohne Begleitung zur Titelmelodie des Mickey Mouse Club.
Burgos war dem Text gefolgt. Er hatte eine Pistole zwischen Cassie Bentleys Zähne geschoben und abgedrückt. Er hatte sie erschlagen und danach auf sie geschossen. Die dazugehörige Stelle aus dem Deuteronomium schilderte jedoch eine andere Form der Gewalt – die Steinigung einer Hure. Songtext und Bibelzitat wichen hier deutlich voneinander ab. Burgos war beiden gefolgt; er hatte Cassie gesteinigt und erschossen.
Ursprünglich hatte Burgos eine andere Stelle notiert, nicht aus dem Deuteronomium, sondern aus Levitikus; eine Passage, in der es um Ehebruch ging, und in der die Hinrichtung der Schuldigen gefordert wurde. Warum hatte Burgos die Stellen ausgetauscht?
Riley konnte sich das nicht erklären. Schließlich war heute gerade der erste Tag einer langen Zeit ausgiebiger Recherchen. Die Stoßrichtung seiner Argumentation nahm in seinem Kopf jedoch bereits Gestalt an. Seine Aufgabe würde darin bestehen, Abweichungen zwischen Burgos’ Taten und dem Songtext aufzuzeigen. Die Verteidigung würde unvermeidlich auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren – Burgos hätte auf Befehl Gottes getötet -, und Riley würde im Gegenzug nachweisen müssen, dass er den Anweisungen nicht wirklich in allen Punkten gefolgt war.
Ein Cop klopfte an und teilte ihnen mit, Professor Albany sei jetzt da. Riley wollte den Professor unbedingt persönlich kennenlernen. Albany gehörte die Druckerei, in der Burgos nachts gearbeitet hatte. Und, beinahe noch wichtiger, Albany hatte ein Seminar abgehalten, das Cassie Bentley und auch Ellie Danzinger besucht hatten.
Frankfort Albany betrat den Raum, ein typischer College-Professor, in einem nicht mehr ganz weißen Hemd mit offenem Kragen, Tweedjackett und ungebügelten Leinenhosen. Das Haar trug er lang und zurückgekämmt. Fehlte nur noch die Pfeife. Sein bleicher, erschöpfter Gesichtsausdruck ähnelte dem vieler Menschen, denen Riley an diesem Tag begegnet war und die alle durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen waren.
Riley, der Chief, Joel Lightner und Albany nahmen an dem improvisierten Konferenztisch Platz, das Aufnahmegerät in der Mitte. Der Professor blickte in die Runde, als ob er etwas vorbringen wollte, aber nicht genau wüsste, wie er beginnen sollte. Normalerweise hätte Paul die Situation mit ein paar einleitenden Worten aufgelockert, aber er wollte hören, was Albany zu sagen hatte.
»Ich – ich kann das alles gar nicht glauben.« Er griff in sein Jackett, zückte ein silbernes Etui und öffnete es. Zigaretten. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Nicht, wenn wir eine bei Ihnen schnorren können«, sagte der Chief.
Die Bewegungen des Professors fielen zögerlich aus.
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