In Gottes Namen
Ich hatte nie das Vergnügen gehabt, Gwendolyn persönlich kennenzulernen. Und es war wohl auch kein echtes Vergnügen, nach allem, was so durchsickerte.
Ich habe keinen Schimmer, warum Evelyn mich danach fragt. Aber ich spiele nicht gerne Katz und Maus, es sei denn, ich bin die Katze. (Oder war es doch die Maus?) »Cassie Bentley war ein vielversprechendes junges Mädchen, und ihr Tod ist eine echte Tragödie«, sage ich. »Natalia Lake hat diesen Schicksalsschlag mit unglaublicher Haltung und Würde gemeistert. Ich wünsche ihr und ihrer Nichte Gwendolyn alles Gute.«
Evelyn schweigt. Das war definitiv nicht das, was sie hören wollte. Aber was hat sie sich erwartet? Schließlich bin ich Anwalt. Ich bin den ganzen Tag mit verbalen Manipulationen beschäftigt.
Ich schenke Evelyn ein breites Lächeln. »Und Senator Almundo ist unschuldig«, füge ich hinzu.
Mit einem lauten Seufzen atmet sie aus. Sanft packe ich ihren Rekorder und drücke die Stopptaste. »Evelyn«, sage ich, »wenn ich einen Zeugen ins Kreuzverhör nehme, stelle ich ihm gern scheinbar unzusammenhängende Fragen, damit er meine Absicht nicht durchschaut. An einem bestimmten Punkt bündle ich dann sämtliche Informationen und lege sie in meinem Sinne aus, bevor er die Chance hat, den Schaden zu reparieren. Aber wir sind hier nicht vor Gericht, ich stehe nicht unter Eid und muss Ihre Spielchen nicht mitspielen. Also tun Sie mir einen Gefallen: Grüßen Sie Ihre Mutter von mir und machen Sie sich noch einen schönen Tag. Falls Sie irgendwann offen und ehrlich mit mir reden wollen, dann haben Sie ja meine Nummer.«
Ich verabschiede mich und lasse sie an der Ecke der Plaza stehen. Sie ruft mir hinterher: »Okay, dann reden wir meinetwegen offen und ehrlich.« Aber jetzt kassiert sie Strafpunkte wegen Unhöflichkeit. Irgendwann in den nächsten Tagen werde ich einen ihrer Anrufe beantworten, aber sicher nicht diese Woche.
Kurz vor drei bin ich zurück im Büro. Ich nehme mir einen Moment Zeit, um unten am Lift den eingravierten Schriftzug SHAKER,RILEY & PARTNER auf mich wirken zu lassen, und genieße den Anblick gleich noch mal – in Goldbuchstaben auf Marmor über dem Kopf der Empfangsdame -, als ich aus dem Aufzug in unsere Etage trete. Der Empfangsbereich ist gepflegt, mit gemütlichen Sofas und dem Wandbild eines Gerichtssaals, das die Klienten immer daran erinnert, dass wir in erster Linie Strafverteidiger sind. Dieses Bild war eine clevere Idee, als wir hier einzogen. Die Klienten stehen drauf. Heutzutage endet zwar fast alles mit einer außergerichtlichen Einigung, aber für den Fall der Fälle wissen die Mandanten gerne einen echten Krieger an ihrer Seite.
Ich begrüße die Empfangsdame, deren Namen ich vergessen habe. Früher war das anders, als Richter Shaker und ich die Firma gerade frisch gegründet hatten, mit nur einem festen Klienten, Harland Bentley, und sechs hungrigen jungen Anwälten, auf der Jagd nach jedem Fall, den wir kriegen konnten. Jeden Mittwoch aßen wir gemeinsam Pizza, während wir unsere Bilanzen durchsprachen, über neue Klienten und anstehende Prozesse diskutierten und darüber, an welchem Wochenende wir alle gemeinsam der Kanzlei einen neuen Farbanstrich verpassen würden. Freitags tranken wir immer Scotch bevor wir heimgingen. Wir hatten sogar ein eigenes Basketball-Team, mit dem wir gegen andere Mannschaften aus der Anwaltskammer antraten.
Inzwischen arbeiten über hundert Anwälte in diesen wundervollen Räumlichkeiten, wir ködern die Abgänger der besten Jura-Unis mit stattlichen Gehältern als Juniorpartner und betrauen die talentiertesten darunter mit unseren Fällen. Erst gestern bin ich an einem der Konferenzräume vorbeimarschiert, und mir wurde bewusst, dass ich nicht einen der jungen Anwälte darin mit Namen kannte.
Ich grüße zwei Juniorpartner, beide weiblich, jung und attraktiv. Sie erkundigen sich, wie es mir geht, und ich antworte, harmlos genug: »Unermüdlich im Einsatz für die Gerechtigkeit.« Beide lachen, und ich schlendere weiter. Kurze Quizfrage: Attraktive junge Frauen lachen über deine Witze, weil sie dich (a) ebenfalls attraktiv finden, (b) für scharfsinnig und brillant halten, oder weil du (c) ihre Gehaltschecks unterschreibst?
»Sie haben die Personalversammlung versäumt. Schon wieder.«
Das ist es, was ich an meiner Assistentin Betty so schätze. Sie nimmt mir gegenüber nie ein Blatt vor den Mund, und sie blickt nie auf, wenn ich an ihrem Schreibtisch vorbeirausche.
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