In grellem Licht
sie gesehen! Mit
Ihrem Gesicht!
»Sie ist verrückt«, sagt Rob, als wir uns alle in
die Sicherheit des Restaurants flüchten. Joaquim und Dmitri,
Sarah und Caroline sagen nichts. Sie überlassen es Rob. Aber was
wissen die anderen vier über das, was mir vor der Operation
widerfahren ist? Was weiß das Mädchen? Wieviel von meinem
Leben ist mir verschlossen – aber nicht all den anderen, mit
denen ich lebe, tanze, schlafe?
»Ich glaube, so kann ich nicht weitermachen«,
entfährt es mir, noch ehe ich den Gedanken zu Ende gedacht habe.
»Nichts zu wissen. Dieses Mädchen war nicht verrückt,
Rob – sie hat sich überhaupt nicht verrückt
angehört!« Schimpansen mit meinem Gesicht.
»Nicht jetzt«, sagt er mit einem Blick auf die anderen,
die die Speisekarte auf dem Bildschirm studieren, als könnten
sie uns nicht hören. »Jetzt essen wir erst einmal zu
Mittag.«
Und das tun wir auch. Wir sprechen über nichts anderes als
die Truppe, die Proben, die Vorstellungen. Ich spüre, wie ich
ruhiger werde. Das ist es doch schließlich, worauf es allein
ankommt: auf das Tanzen. Und auf sonst nichts.
Aber eine Woche später, zurück in Washington, beginnen
wir die Arbeit an einem neuen Ballett, das Mister C. persönlich
für uns entworfen hat.
»Cameron, Sie und Sarah treten in der Diagonale auf, und zwar
mit flies jetés von den entgegengesetzten Seiten der
Bühne«, sagt er. Er demonstriert es, indem er den
Übungssaal durchquert; mit sechzig bewegt er sich immer noch wie
ein junger Mann. In seinen Turnschuhen, den häßlichen
Hosen und dem roten T-Shirt, das er bei einer ersten
Choreographiebesprechung immer trägt, wirkt er, wenn man von
seiner Stimme absieht, fast wie eine Parodie seiner selbst. Seltsam,
eine so entschlossene, brillante Sicherheit aus dieser flachen,
rauhen, mittelwestlichen Redeweise herauszuhören.
»Sehr kraftvoll in den Bewegungen«, fährt er fort.
»Ihr trefft euch in der Mitte, tendu croisé
derrière, seht einander an und lächelt. Dann
wiederholen Mitchell und Caroline die Sequenz bis – hierher.«
Ich weiß nicht, weshalb ich Sarah anlächeln soll. Ich
bin zu spät gekommen – eine Todsünde –, und was
Mister C. den anderen über das Stück bereits verraten hat,
wird er für mich ganz sicher nicht wiederholen. So zwingt er
mich, danach zu fragen. Eine Bestrafung.
Ich frage nicht. Ich bringe den Auftritt hinter mich und dann die
Kombination, die folgt. Die Musik klingt aggressiv, modern: Sabo,
denke ich, oder Bolthouse. Es gibt ein paar sehr athletische,
erotische Figuren für Sarah und mich, für Mitchell
und Caroline. Ich tippe auf zwei liebende Paare.
»Und jetzt«, sagt Mister C. »wenn die Musik
abbricht, tritt der Doktor auf. Ich zeige es Ihnen vor, Nicole. Nein,
ruhiger. Sie stehen mit dem Rücken zu den anderen, acht volle
Takte lang, und die Musik spricht das Urteil.«
Doktor? Urteil?
»Jetzt sinkt ihr zu Boden, Mitchell und Caroline – so,
überwältigt. Sarah und Cameron, ihr beide habt den
Kontrapunkt, den Schock – aber kontrolliert, langsam, wuchtig,
zur Musik passend. Seht her – es ist ein kurzer pas de deux, aber ein wichtiger. Startet mit einer gestützten Arabeske,
Sarah, beugen Sie sich sehr weit vor, Sie können ohne seine
Unterstützung nicht in dieser Stellung verharren, und das wissen
Sie… gut. Aber lassen Sie den Arm sinken… sehr gut…
Cameron, ahmen Sie das sehnsüchtige Ausstrecken ihres Armes
nach.«
Der kleine pas de deux ist wunderhübsch: schwierig,
berührend, perfekt ausgewogen. Aber ich kann kaum die Schritte
ausführen. Meine Brust ist so eng, daß es schmerzt.
Doktor? Urteil?
»Sie gehen beide rechts von der Bühne ab«, sagt
Mister C. »und, Mitchell, Sie tragen Caroline links von der
Bühne. Dann treten Sie wieder auf, Sarah, ganz hinten, genau mit
dem Takt, langsame, wehmütige bourées, augenfällig ganz allein auf der Bühne… nein,
Schätzchen, so…! Ja, das ist besser. Und jetzt erstarren
Sie, tendu effacé, als das erste der ungeborenen Kinder
in schnellen bourées und mit gesenktem Kopf über
die Bühne flitzt.«
Ungeborene Kinder.
»Sie heben den Kopf, Sarah, und wenn die Musik wechselt…
hier…«
»Stop!« sage ich. Sehr laut. Alle sehen mich an.
»Ich bin zu spät gekommen. Bitte, worum dreht sich das
Ballett?«
Mister C. sagt nichts. Eine seiner ärgerlichsten
Angewohnheiten ist es, Erklärungen nie zu wiederholen; andere
Tänzer müssen das an seiner Stelle tun. Sarah ergreift
eilig das Wort.
»Es geht um
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