In guten wie in toten Tagen
zurollte, erhob sie sich seufzend. »Nun hör doch mal auf, du kleines Ungeheuer«, sagte sie.
Tessi hob ihr verschmiertes Gesicht und strahlte ihre Mutter begeistert an. »Dack«, sagte sie. »Babab.«
May stöhnte laut. Dann fing sie wieder an zu weinen.
Und wartete darauf, dass Jacky oder Cara sie in den Arm nahmen, aber Jacky hatte schon Tessi im Arm und Cara dachte nicht daran, May zu trösten.
Cara ging früh ins Bett und schlief auch sofort ein, aber dann wachte sie mit einem Ruck wieder auf. Starrte ins Dunkel ihres Zimmers und fragte sich, was sie geweckt hatte. Und hörte plötzlich die Schritte auf der Treppe. Es war nicht Helena, die da hochkam und es waren auch nicht die Schritte ihrer Mutter. Es waren schwere, kraftvolle Männerschritte. Jetzt hatte der Kerl die achte Stufe erreicht, die laut knarzte. Und stieg weiter, kam hoch, kam immer näher. Zu mir, dachte Cara. Er will zu mir.
Sie wollte aufspringen und zur Tür laufen und stellte fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Ihre Arme, ihre Hände, ihre Beine, ihr ganzer Körper war wie gelähmt und auch ihr Mund ließ sich nicht öffnen, als sie um Hilfe schreien wollte. Mit aufgerissenen Augen lag sie da, hörte, wie der Fremde immer näher kam, musste abwarten, bis er sie erreicht hatte.
Jetzt war er an der Tür, drückte die Klinke nach unten und trat in den Raum. Ruhige, langsame, kraftvolle Schritte. Kamen näher. Kamen zu ihrem Bett. Schrei doch, schrei!, dachte Cara, und konnte nichts tun und konnte sich nicht wehren.
Nun stand er neben ihr.
Da wachte sie wirklich auf.
03:07 verkündete der Wecker auf ihrem Nachttisch. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie die Nachttischlampe anknipste. Ihr Zimmer war leer, da war nichts, da war niemand. Ein Traum, nur ein Traum. Sie angelte nach der Wasserflasche, die neben ihrem Bett stand, und brauchte eine ganze Weile, bis sie es schaffte, sie an die Lippen zu heben und zu trinken. Sie wusste, dass sie nicht mehr einschlafen konnte.
Wer war das?, fragte sie sich. Wer hatte sie da besucht? Und was wollte er von ihr?
meine zelle (1)
das fenster zum hof
wie ein blatt in meinem buch
aber die linien
verlaufen
senkrecht
6
Eine Verkehrsinsel in einem Kreisverkehr auf der Danziger Straße. Das war Caras und Vitalis Arbeitsplatz, zumindest für heute. Sie sollten die stacheligen Weißdornhecken zurückschneiden, Unkraut jäten und den Müll einsammeln, den die Autofahrer während der Fahrt aus den Fenstern warfen.
Vitali brachte die Hecken mit der Elektroschere in eine topfkuchenähnliche Form. Cara füllte zuerst eine Mülltüte mit verrosteten Dosen und Zigarettenkippen, dann begann sie mit der Jagd auf Disteln und Löwenzahn. Leider war die Erde steinhart, weil es seit Wochen nicht mehr geregnet hatte. Um sie herum brauste dichter Verkehr und verhinderte jede Unterhaltung, und das war gut so, fand Cara.
»Willst du mal schneiden?«, brüllte Vitali ihr zu, nachdem sie sich fast eine Stunde lang abgemüht hatten. Er winkte mit der schweren Heckenschere, als wäre sie aus Plastik.
»Nee, lass mal. Bei mir wird das immer krumm und schief.«
Er zuckte mit den Schultern. »Bei mir auch. Sieht doch keiner.«
»Ist schon gut. Ich mach hier weiter.« Die Jäterei war mühsam und unangenehm und passte perfekt zu ihrem Seelenzustand.
Als Cara und ihre Mutter am Morgen gefrühstückt hatten, war Helena ins Bad gerannt und hatte gekotzt.
»Schon wieder«, sagte Frau Fliedner.
»Sind bestimmt noch die Nachwirkungen von ihrem Vollrausch«, meinte Cara.
»Oder was anderes.«
»Was denn?«
»Hoffentlich ist sie nicht schwanger«, sagte ihre Mutter. »Sie hat sich letzte Woche auch schon mal übergeben. Vor dem ganzen Desaster.«
Cara starrte sie fassungslos an.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Na ja. Morgenübelkeit. Hatte ich bei euch auch immer.«
Das wäre das Ende, dachte Cara jetzt. Helena kriegt ein Kind und Tom ist tot.
Sie sah plötzlich Tessi vor sich. Sah ihren verschmierten Mund und wie sie die CDs aus den Hüllen riss. Dieses Chaos, das sie auf Schritt und Tritt hinterließ. Nie mehr ausschlafen. Nie mehr einfach so das Haus verlassen.
Und wennschon. Wenn Helena wirklich schwanger ist, kriegen wir das auch irgendwie hin, dachte sie. Wir kriegen alles hin, wenn wir nur zusammenhalten.
Früher hatten Cara und Helena immer davon gesprochen, dass sie nach dem Abitur zusammenziehen wollten. »Wenn du mit der Schule fertig bist, kommst du auch nach Münster«, hatte Helena
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