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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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Mädchen war, das ich gesehen hatte, vielleicht aber auch jemand anderes, eine Gestalt, die aus meinem Blickfeld verschwand.

Huldra

M utter holte mich vom Flughafen ab. Sie trug die lange blaue Jacke und den Samtschal, den ich ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, den mit Mohnblumen. Sie liebte diesen Schal und war überrascht gewesen, als sie ihn von mir bekam, denn ich glaube, von mir hatte sie so etwas Edles nicht erwartet. Und sie hatte sogar recht, überrascht zu sein, da er von Ryvold ausgesucht worden war, nicht von mir. Wir hatten uns beim Weihnachtseinkauf in der Stadt getroffen, und er hatte mich darauf aufmerksam gemacht: ein prächtiger, kohlegrauer Schal mit Mohnblumenmotiv, der Samt weich und angenehm wie das Fell einer lebenden Kreatur, die Farben fast zu kräftig, ganz wie die Farben auf einem Bild von Sohlberg. Dass der Schal genau richtig für sie war, hatte ich natürlich gleich gewusst, doch blieb, dass er nicht meine Wahl gewesen war, weshalb mich immer noch ein wenig das schlechte Gewissen plagte, hatte ich mein Geschenk doch als eigene Idee ausgegeben. Es war das erste Mal, dass sie etwas von mir geschenkt bekam, was ihr wirklich gefiel – und obwohl sie sich größte Mühe gab, ihre Überraschung zu verbergen, hatte ich etwas gespürt, und sie wiederum begriff, dass sie sich hatte etwas anmerken lassen. Deshalb hatte sie den Schal seither erst ein- oder zweimal getragen, und deshalb trug sie ihn heute, als ein Zeichen, ein Willkommensgruß. Sie wollte mich wissen lassen, dass sich zwischen uns nichts verändert hatte, dass ich immer noch ihre Tochter war; außerdem sollte ich wissen, wie glücklich sie darüber war. Es machte nichts, dass wir kaum etwas gemein hatten. Es kam allein darauf an, dass sie glücklich war, und sie wollte, dass ich es auch war.
    Sie merkte gleich, dass irgendwas vorgefallen sein musste. Wie denn auch nicht? Nachdem ich die Vision mit dem Mädchen gehabt hatte, war ich nach oben gegangen und bis zur Abreise auf dem Zimmer geblieben, hatte nichts gegessen und vergebens zu schlafen versucht, mich zugleich aber auch gesorgt, ich könnte nicht rechtzeitig aufwachen, um den Zug zurück nach London zu erwischen. Nach einem Tag nagenden Hungers hatte ich den Appetit nun völlig verloren, konnte nur noch Wasser trinken, lag auf dem Bett, schwebte zwischen Schlaf und Wachen und horchte den lieben, langen Tag darauf, wie die Welt um mich herum ihren Geschäften nachging. Sobald es Zeit zur Abfahrt wurde, packte ich meine Taschen und eilte nach unten. An der Rezeption war jemand Neues, nicht Françoise und nicht Renate, sondern eine blonde, mondgesichtige Engländerin, die mir die Rechnung schrieb, mich fragte, ob alles zu meiner Zufriedenheit gewesen sei, und dabei eine Miene zog, die mir verriet, dass sie überall glücklicher wäre als gerade hier. Kaum hatte ich bezahlt, rief sie ein Taxi, und mein erster Reiseabschnitt begann bei strahlendem Sonnenschein; Bäume und Hecken waren noch nass vom Regen, funkelten aber auf der Fahrt zum Bahnhof im Sonnenlicht. Es blieb sonnig bis nach London, auch bis nach Heathrow und Oslo. Sogar als ich in Tromsø aus dem Flugzeug stieg und mit Mutter zum Auto ging, brannte die Sonne auf uns herab und richtete ihr Licht wie ein Scheinwerfer auf mein Gesicht, betonte jeden Schatten, so dass Mutter es sofort bemerkte, aber nichts sagte; sie meinte nur, ich sehe müde aus und solle zu Hause doch gleich ins Bett gehen.
    Sie erkundigte sich nicht nach Arild Frederiksen. Sie wollte nicht wissen, was geschehen war oder wie es ihm ging. Sie wollte auch nicht wissen, warum Kate Thompson in seinem Namen plötzlich Kontakt mit mir aufgenommen hatte, nachdem er achtzehn Jahre ferngeblieben war. Sie wollte gar nichts wissen – nur ließ sie einen kleinen, schicklichen Freiraum zwischen uns, damit ich sagen konnte, was ich sagen wollte, falls ich mich zu reden entschied. Sie musste gewusst haben, dass er – oder Kate Thompson – mir seine Seite der Geschichte erzählen würde, und sie musste sich gefragt haben, wie ich darauf reagieren würde, auch wenn sie nie zugestand – weder mir noch sich selbst –, dass sie fähig war, sich auch nur einen Augenblick lang ernsthaft mit solchen Angelegenheiten zu befassen. Ich denke, sie wollte diesen schicklichen Freiraum um eine Erfahrung belassen, die mir und mir allein gehörte; außerdem begriff ich, wie symptomatisch diese Entscheidung war, symptomatisch nicht für das, was Kate Thompson für

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