In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
Junkies in den Filmen mit Schaum vor dem Mund, sondern hing vom Individuum ab. Die Erfahrung variierte von sehr unangenehm bis höllisch. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es jemals so schlimm gewesen war, aber vielleicht war es wie bei der Geburt. Man vergaß den Schmerz bis zum nächsten Mal.
Berlin wurde ruckartig wach, als wäre sie in die Tiefe gestürzt. Sie musste eingenickt sein. Sie schleppte sich in die Küche, um Tee zu kochen; ihre Finger umklammerten den blauen Lieblingsbecher. Er flog durch die Luft und knallte auf ihren nackten Fuß. Der Drang loszuschreien, sich in einem endlosen Aufheulen zu verlieren, war fast übermächtig.
Sie hielt das keine Sekunde länger aus.
Ihr fiel nur ein Mensch ein, der ihr vielleicht helfen konnte.
62
Doyles Türklingel spielte die Kurzversion des Kinderlieds »Oranges and Lemons«, und ihr fiel die letzte Zeile ein: Hier kommt das Hackebeil und hackt dir deinen Kopf ab .
Doyle öffnete die Tür. Er schien überrascht, aber nicht ablehnend.
»Kommen Sie lieber rein«, sagte er. »Da draußen herrscht ja eine arktische Kälte.«
Die Wohnung war pieksauber, und alles darin stammte aus den Achtzigern. Abgesehen von dem Flachbildfernseher. So muss es hier ausgesehen haben, als Nancy ging, dachte Berlin. Die Atmosphäre ließ sich am besten mit melancholisch beschreiben.
Gerahmte Familienfotos zeigten eine hübsche Frau und ein kleines Mädchen, offensichtlich Mutter und Tochter, und nahmen den Ehrenplatz auf dem Kaminsims ein. Berlin wurde die Brust eng, als sie auf das ernste Gesicht der elfjährigen Gina Doyle blickte, die sie nur als Frau Mitte dreißig gekannt hatte.
Selbst im Tod war Gina das Ebenbild ihrer Mutter gewesen. Doyle war auf keinem der Fotos zu sehen, wahrscheinlich war er der Fotograf gewesen. Und kamerascheu außerdem. Er hätte keine Bilddokumente gewollt, die künftig der Polizei bei ihren Untersuchungen hätten helfen können.
Er tauchte mit Tee und einem Teller mit Keksen aus der Küche auf. Berlin wusste sofort, dass es Schokoladenkekse waren, und sie hatte recht. So war England. Wenn Jesus zu Besuch käme, würde man vor seiner Kreuzigung mit ihm Tee trinken.
»Sie sehen überhaupt nicht gut aus, Miss, wenn ich das sagen darf«, begann Doyle.
Sie sehen auch nicht gerade toll aus, Kumpel, dachte Berlin. »Ich habe eine schlimme Erkältung. Darf ich mal Ihr Bad benutzen?« Es war ein höflicher Eröffnungsspielzug, eine rituelle Geste, und beide wussten, das bedeutete, dass sie ein bisschen herumschnüffeln wollte.
»Aber gern.« Er zeigte auf eine Tür.
Eigentlich musste sie gar nicht aufs Klo und machte sich auch nicht die Mühe, die zwei Türen zu öffnen, die von dem kleinen Flur abgingen. Wahrscheinlich waren dahinter zwei Schlafzimmer, und sie hätte sonst was darauf gewettet, dass in dem einen noch die Kindermöbel seines kleinen Mädchens standen.
Überrascht war sie hingegen von dem Kalender innen an der Toilettentür: 1986. Verblasste Kätzchen sahen mit großen, sanften Augen auf sie herunter. Doyle erschien ihr gar nicht wie ein Katzenliebhaber, aber hier war der Beweis.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, sah er sie erwartungsvoll an. Das Geplänkel war vorbei.
»Also, was kann ich für Sie tun?«
»Mr. Doyle, ich habe Informationen für Sie über Ihre Tochter.«
Doyle blieb regungslos sitzen, aber sein rechtes Knie zuckte nervös.
»Das hier ist nichts Offizielles?«, fragte er.
»Nein.«
Er betrachtete sie einen Augenblick lang mit wachsamem Raubtierblick. »Also, was wollen Sie?«
Er war kein Dummkopf.
»Mein Wunsch wird Sie überraschen.«
»Das bezweifle ich, aber sprechen Sie weiter. Was immer Sie auch wollen, ich werde mein Bestes tun. Ich weiß, dass alles im Leben einen Preis hat, und Sie werden feststellen, dass ich ein williger Zahler bin.«
Es war ein Zeichen für das Ausmaß ihrer Verzweiflung, dass Berlin ihn beim Wort nehmen wollte.
»Wussten Sie, dass Ihre Tochter verheiratet war?«
»Verheiratet? Sie meinen, sie lebte mit einem Kerl zusammen?«
Als könnte er nicht begreifen, dass sein kleines Mädchen die Frau von jemandem sein könnte.
»Verheiratet.«
Doyle beugte sich nach vorn. »Wer war das? Warum hat er keine Vermisstenanzeige aufgegeben? Man hat mir gesagt, es wäre keine eingegangen. Wussten Sie das? Wenn sie wirklich zusammenlebten, warum hat er nicht …«
Plötzlich brach er ab, als wären ihm die Implikationen gerade bewusst geworden. Seine Gesichtszüge verhärteten
Weitere Kostenlose Bücher