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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Bücher, wenn sie das richtig in Erinnerung hatte. Schon etabliert, nach nur zwei Büchern. Beide hatten heftige Diskussionen ausgelöst. Asbjørn Revheim war damals eine Bedrohung gewesen. Er hatte keinen Schutz verdient.
    Inger Johanne hielt noch immer die Biographie in der Hand. Sie schaute sie an, fuhr mit der Hand über den Einband. Line hatte darauf bestanden, ihr das Buch dazulassen. Es war ein gutes Bild. Revheim hatte ein schmales, aber maskulines Gesicht. Er lächelte ein wenig. Fast arrogant. Seine Augen waren klein, doch er hatte auffällig lange Wimpern.
    Sie ging ins Haus, ließ die Terrassentür aber einen Spaltbreit offenstehen. Ein schwacher Essiggeruch stach ihr in die Nase. Sie ertappte sich bei einem Gefühl der Enttäuschung darüber, daß Yngvar nicht angerufen hatte. Als sie ins Bett ging, beschloß sie, das Buch anzufangen. Noch bevor ihr Kopf das Kissen berührte, schlief sie tief.

43
    Aksel Seier war nie ein Mann der schnellen Entschlüsse gewesen. In der Regel wollte er alles überschlafen. Gern eine Woche oder mehr. Sogar für kleine und belanglose Entscheidungen, wie die, ob er sich einen neuen oder einen gebrauchten Kühlschrank zulegen sollte, da der alte nun endgültig seinen Geist aufgegeben hatte, ließ er sich ausgiebig Zeit. Bei allem gab es Vor- und Nachteile. Er mußte sich alles genau überlegen. Sicher sein. Der Entschluß, im Jahre 1966 Norwegen zu verlassen, hätte bereits ein Jahr früher getroffen werden müssen. Er hätte einsehen müssen, daß seine Zukunft nicht in einem Land lag, das ihn ins Gefängnis gesteckt und ihn ohne Grund neun Jahre dort festgehalten hatte und das so klein war, daß es ihn oder andere niemals vergessen lassen würde. Aber Eile lag ihm nun einmal nicht. Vielleicht war das eine Nachwirkung seiner Jahre im Gefängnis, wo die Zeit so langsam verstrich, daß er sie nur mit Mühe verbrauchen konnte.
    Er hatte sich auf das Mäuerchen unterhalb des Hauses gesetzt, zwischen dem kleinen Garten und dem Strand. Der Granit war rot und sonnenwarm, er spürte die Hitze durch seinen Hosenboden. Es war Ebbe. Halbtote Hufeisenkrebse lagen auf dem Wattstreifen. Einige mit dem Panzer nach oben, wie richtige kleine Militärpanzer mit Schwanz. Andere waren von der Brandung auf den Rücken geworfen worden, sie starben in der Sonne einen langsamen Tod und reckten dabei die Scheren in die Luft. Die Krebse sahen aus wie winzige Urzeitungeheuer, wie ein vergessenes Glied in einer Evolution, die ihnen eigentlich schon längst den Garaus hätte machen müssen.
    So kam er sich auch selbst vor.
    Sein ganzes Leben hatte er auf Genugtuung gewartet.
    Patrick, der einzige in den USA , der von seiner Vergangenheit wußte, hatte ihm vorgeschlagen, sich an einen Anwalt zu wenden. Oder vielleicht an einen Detektiv, hatte er gesagt und dabei an einem goldbeschlagenen Pferdehalfter herumgerieben. Patricks Karussell war das prächtigste in ganz Neu-England. In Amerika gab es jede Menge Detektive. Und viele waren ungeheuer tüchtig, sagte Patrick. Wenn dieses Frauenzimmer schon den ganzen Weg von Europa hergekommen war, um ihm zu erzählen, daß sie ihn für unschuldig hielt, nach so vielen Jahren, die lange Reise von Norwegen her, ja, dann mußte es sich doch lohnen, der Sache genauer auf den Grund zu gehen. Anwälte waren nicht billig, glaubte Patrick zu wissen, aber es gab ja auch solche, die nur Honorar forderten, wenn sie den Rechtsstreit gewannen.
    Das Problem war, daß Aksel keinen Rechtsstreit hatte.
    Jedenfalls nicht hier in den USA.
    Er hatte keinen Rechtsstreit, aber im Grunde hatte er immer gewartet. Still und resigniert hatte er die Hoffnung niemals aufgegeben, daß irgendwer erkennen würde, welches Unrecht da begangen worden war. Seine Kräfte reichten nur für ein stilles Gebet vor dem Schlafengehen, daß der morgige Tag gute Nachrichten bringen möge. Daß jemand ihm Glauben schenkte. Jemand anderes als Eva und Patrick.
    Inger Johanne Viks Besuch hatte etwas zu bedeuten.
    Zum ersten Mal in all diesen Jahren spielte er mit dem Gedanken an Heimkehr.
    Noch immer dachte er an Norwegen als an sein Zuhause. Sein Leben bestand aus Harwichport. Aus seinem Haus, den Nachbarn, den wenigen Menschen, die er als Freunde bezeichnen konnte. Alles, was er besaß, befand sich hier, in einem kleinen Ort auf Cape Cod. Trotzdem war immer Norwegen sein Zuhause gewesen.
    Wenn Eva ihn damals gebeten hätte, zu Hause zu bleiben, wäre er vielleicht niemals an Bord der MS Sandefjord gegangen.

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