In kalter Absicht
Wenn sie ihn später, in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in den USA , gebeten hätte zurückzukehren, hätte er auf dem erstbesten Boot angeheuert. Er hätte sich in Norwegen um alle Arten von Arbeit beworben und billig gelebt. Wäre in eine andere Stadt gezogen, wo er dann ein oder zwei Jahre hätte arbeiten können, bis er von seiner Geschichte eingeholt und weitergetrieben worden wäre. Mit Eva wäre er überall hingegangen. Aber er hatte nur sich selbst bieten können, und Eva war nicht stark genug gewesen. Aksels Schande war zu groß. Nicht für ihn, sondern für sie. Sie wußte, daß er unschuldig war. Daran hatte sie offenbar nie gezweifelt. Aber sie hatte die bohrenden Blicke der anderen nicht ertragen können. Freunde und Nachbarn tuschelten und warfen sich vielsagende Blicke zu, und die Mutter machte alles noch schlimmer. Eva beugte den Nacken und fügte sich. Mit Eva zusammen hätte Aksel alles hinnehmen können, aber Eva war zu schwach gewesen, um dieses Leben mit ihm zu teilen.
Später, als sie frei war, war es für sie beide zu spät gewesen.
Jetzt war die Zeit vielleicht gekommen. Das Schicksal hatte einen Sprung in eine unerwartete Richtung gemacht, und jemand zu Hause brauchte ihn. Eva hatte ihn in dem Brief, den sie ihm gegen ihre Gewohnheit außer der Reihe geschickt hatte, zwar nicht um sein Kommen gebeten. Aber sie war zutiefst verzweifelt.
Aksel hatte Inger Johanne Viks Visitenkarte. Wenn er nach Norwegen führe, könnte er sich an sie wenden. Patrick hatte recht: Diese Frau war aus Norwegen hergekommen, um mit ihm zu reden, sie mußte also wirklich von seiner Sache überzeugt sein. Der Traum von Genugtuung könnte Wahrheit werden. Diese Vorstellung machte ihm angst, und er erhob sich mit steifen Bewegungen und rieb sich den Hintern.
Der Immobilienmakler hatte von einer Million gesprochen. Das war schon eine ganze Weile her. Cape Cod zeigte sich jetzt von seiner schönsten Seite. Da ein eventueller Käufer wohl sicher nicht am Haus interessiert sein würde, brauchte er nicht zu putzen und keine Reparaturen vorzunehmen.
Aksel Seier drehte mit der Stiefelspitze einen Hufeisenkrebs um. Der blieb liegen wie ein an Land getriebener deutscher Helm aus dem Ersten Weltkrieg. Er hob den Krebs am Schwanz hoch und warf ihn ins Wasser. Obwohl er noch nie ohne gründliche Überlegungen einen Entschluß gefaßt hatte, ging ihm auf, daß er sich einer wichtigen Entscheidung näherte. Er hätte gern gewußt, ob er die Katze mitnehmen könnte.
44
»Du hast dich geirrt, was die Halbgeschwister-Theorie angeht«, sagte Sigmund Berli.
»Gut«, sagte Yngvar Stubø. »Hast du die Blutproben ohne allzu große Umstände bekommen?«
»Frag lieber nicht. Ich habe während der letzten Tage mehr gelogen als in meinem ganzen bisherigen Leben. Frag lieber nicht. Vorläufig haben wir nur die Ergebnisse von altertümlichen Vaterschaftstests. Die DNS -Analysen dauern länger. Aber alles weist darauf hin, daß die anderen Väter in diesem Fall ihre Kinder wirklich selbst gezeugt haben.«
»Gut«, sagte Yngvar noch einmal. »Das höre ich gern.«
Sigmund Berli stutzte.
»Also wirklich«, sagte er und legte seinem Chef die Unterlagen hin. »Besonders überrascht siehst du ja nicht aus. Warum wolltest du das eigentlich unbedingt überprüfen lassen, wenn du im Grunde gar nichts anderes erwartet hast?«
»Es ist schon lange her, daß mich irgend etwas überrascht hat. Und du weißt so gut wie ich, daß wir alles untersuchen müssen. Das, was wir glauben, und das, was wir nicht glauben. Im Moment scheinen alle hier einen kollektiven Kurzschluß zu haben, bei dem sich alles um …«
»Yngvar! Jetzt laß mal gut sein!«
Die Jagd auf Olaf »Laffen« Sørnes aus Rykkinn war zu einem nationalen Anliegen geworden. Es war von nichts anderem mehr die Rede, in den Medien, am Mittagstisch, am Arbeitsplatz. Yngvar konnte verstehen, daß die meisten Leute Laffen schon zum Kindsmörder abgestempelt hatten. Daß Yngvars Kollegen aber offenbar ebenfalls dieser übereilten Schlußfolgerung zum Opfer gefallen waren, zumindest ziemlich weitgehend, machte ihm angst. Laffen war doch höchstens ein armseliger Trittbrettfahrer . Sein Vorstrafenregister berichtete von einer verkorksten Sexualität, die erst jetzt zu dem Versuch geführt hatte, ein Kind zu rauben. Sowohl in der Literatur als auch im wirklichen Leben gab es zahllose traurige Parallelen. Wenn ein Verbrechen genügend Aufmerksamkeit erregte, hatten gleich auch andere Blut
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