In kalter Absicht
in dem er den Selbstmord beschreibt?« fiel Kristin ihr ins Wort. »Obwohl es viele, viele Jahre vorher geschrieben wurde, ehe er ihn dann wirklich begangen hat … eigentlich eine schreckliche Vorstellung.«
Sie deutete auf dramatische Weise ein Schaudern an.
»Jetzt antwortet schon«, quengelte Bente. »Könnt ihr nicht einfach sagen, was passiert ist?«
Keine antwortete. Inger Johanne fing an, den Tisch abzuräumen. Alle waren satt.
»Ich finde, wir könnten über etwas Angenehmeres reden«, sagte Halldis behutsam. »Was habt ihr denn so für Pläne für den Sommer?«
Als die Freundinnen endlich aus der Wohnung stolperten, war es schon nach eins. Bente hatte zwei Stunden geschlafen und verwirrt gewirkt angesichts des Vorschlags, jetzt nach Hause zu fahren. Halldis versprach, ihr Taxi einen Umweg über Blindern machen zu lassen, um Bente sicher zu Hause abzuliefern. Inger Johanne lüftete gründlich. Während der letzten Stunde war das Rauchverbot aufgehoben worden, sie wußte allerdings nicht, wer diesen Beschluß getroffen hatte. Sie stellte vier flache Schalen mit Essig auf. Dann ging sie auf die Terrasse hinaus.
Es war die zweite Stunde des ersten Tages im Juni. Ein tiefblaues Sommerlicht war im Westen zu ahnen, während der nächsten zwei Monate würde es nachts nicht mehr richtig dunkel werden. Die Luft war scharf, aber sie konnte sich gut auch ohne Mantel draußen aufhalten. Inger Johanne lehnte sich an den Blumenkasten. Eine Reihe von Stiefmütterchen ließ die Köpfe hängen.
Während der vergangenen drei Tage hatte sie zweimal über Asbjørn Revheim gesprochen.
Asbjørn Revheim war allerdings auch eine zentrale Gestalt in der norwegischen Literatur, ebenso wie in der neueren norwegischen Geschichte. 1971 oder 72, sie wußte es nicht mehr genau, war er verurteilt worden, weil er einen blasphemischen, unsittlichen Roman geschrieben haben sollte; mehrere Jahre nach dem albernen Prozeß gegen Jens Bjørneboe, der eigentlich einen Schlußstrich unter die belletristischen Ambitionen der Anklagebehörden hätte setzen müssen. Revheim hatte sich dadurch nicht entmutigen lassen und sich zwei Jahre darauf mit Versunkene Stadt, das Meer steigt wieder zu Wort gemeldet. Dieses Buch war derber und gotteslästerlicher gewesen als alles, was vorher oder nachher in Norwegen gedruckt worden war. Manche hatten schon vom Nobelpreis gesprochen. Die meisten waren jedoch der Meinung gewesen, der Mann habe einen weiteren Prozeß verdient. Die Anklagebehörden aber hatten ihre Lektion gelernt; der Generalstaatsanwalt hatte viele Jahre später zugegeben, das Buch gar nicht erst gelesen zu haben.
Revheim war ein wichtiger Autor gewesen. Aber er war tot, und das schon lange. Inger Johanne konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt an ihn gedacht, geschweige denn über ihn gesprochen hatte. Als im vergangenen Herbst die Biographie erschienen war und ziemliches Aufsehen erregt hatte, hatte sie das Buch nicht gekauft. Revheim schrieb Bücher, die ihr vor langer Zeit etwas bedeutet hatten. Jetzt hatte er ihr nichts mehr zu sagen. Für ihr Leben, so, wie es heute aussah.
Zweimal in drei Tagen.
Anders Mohaugs Mutter hatte geglaubt, Anders sei 1956 in den Mord an der kleinen Hedvig verwickelt gewesen. Anders Mohaug war entwicklungsgestört. Er war leicht zu lenken und hing dauernd mit Asbjørn Revheim zusammen.
Das ist zu einfach, dachte Inger Johanne. Das ist einfach viel zu einfach.
Sie fror, wollte jedoch noch nicht wieder ins Haus gehen. Der Wind zupfte an ihren Blusenärmeln. Sie müßte sich neue Kleider kaufen. Die anderen Mädels sahen jünger aus als sie. Selbst Bente, die bald eine Entziehungskur wegen eines Alkoholkonsums machen müßte, über den man nicht mehr mit einem Lachen hinweggehen konnte, und die jeden Tag dreißig Zigaretten rauchte, sah besser aus als Inger Johanne. Moderner jedenfalls. Line hatte schon längst den Versuch aufgegeben, sie zu Einkaufsbummeln mitzuschleifen.
Es war zu einfach.
Außerdem, wer sollte ein Interesse daran haben, Asbjørn Revheim vor Verfolgung und Strafe zu bewahren?
1956 war er erst sechzehn, dachte sie und füllte ihre Lunge mit Nachtluft; sie wollte vor dem Schlafengehen noch einen klareren Kopf bekommen.
Aber 1965? Als Anders Mohaug starb und seine Mutter zur Polizei ging? Als Aksel Seier ohne eine andere Erklärung freigelassen wurde, als daß er sich freuen sollte?
Damals war Asbjørn Revheim fünfundzwanzig Jahre alt und bereits ein anerkannter Autor. Zwei
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