In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
sicher in seiner Verkleidung als anonymer Schatten unter all den anderen Einwohnern von Barentsburg. Wir sind allein , dachte Knut. Der Helikopter von Longyearbyen startet bei so schlechter Sicht nicht. Es gibt nur diesen versoffenen ehemaligen Polizisten und mich – und wir müssen einen Mörder finden, bevor noch mehr geschieht.
KAPITEL 32 Gespräche
Beide saßen in einem fadenscheinigen Sessel und tranken Tee an einem kleinen runden Tisch. Normalerweise kam sonst niemand so früh am Morgen. Sie hatten das Frauenhaus für sich und konnten sich unterhalten, ohne dass jemand mithörte.
Ljudmila nahm sich einen Löffel Brombeermarmelade und rührte sie langsam in den Tee. Sie hatte sich einen Wollschal um die Schultern gelegt. Es war kalt, der Ofen hatte das Zimmer noch nicht genügend beheizt. Jekaterina sah, dass sie Angst hatte. »Niemand weiß, dass wir hier sind«, sagte sie.
»Nein, niemand weiß es …« Ljudmila strich über ihren geschickt hochgesteckten Haarknoten. »Die Kantine ist geöffnet, aber mich wird man erst in einer halben Stunde vermissen, denke ich. Trotz der Umstände.«
Jekaterina schauderte. »Wer könnte es sein?«
»Darum müssen wir uns nicht kümmern … nicht unsere Sache.« Ljudmilas Ton war entschieden, wie immer, wenn sie unsicher war. Jekaterina glaubte ihr nicht. Jedes Unglück oder Elend in Barentsburg betraf früher oder später die Frauen. Die Morde am gestrigen Abend würden sie in irgendeiner Form heimsuchen.
Ljudmila hatte keine Zeit, um die andere Frau zu trösten. Sie wusste, dass sie ihr die Informationen, die sie wollte, aus der Nase ziehen musste.
»Wie geht es deiner Nichte Katja? Kommen sie und das Baby zurecht? Der neue Job – behält sie ihn? Wer hätte das gedacht – im Sekretariat der Duma in Moskau, was? Wenn sie jetzt noch einen passenden Mann findet, wird sie mit der Zeit großen Einfluss bekommen.«
Ljudmila lächelte bei dem Gedanken. So etwas gefiel ihr – man säte einen Samen und half gleichzeitig den Verwandten eines ängstlichen Freundes oder Kollegen in Barentsburg. Nach einigen Jahren keimte der Samen. Und derjenige, dem man geholfen hatte, war nun in der Lage, seinen Einfluss geltend zu machen. Man zog Nutzen aus seiner ursprünglichen Investition. So funktionierten die Frauen und ihr Netzwerk am besten. Aber nun musste sie es aufgeben, leider.
Sie nahm sich zusammen, sie hatte keine Zeit zu verlieren … »Es könnte sein, dass ich Spitzbergen verlassen muss. Aber vorher … muss ich dich etwas fragen. Du warst doch gestern im Büro, oder? Der Büroleiter … hat er Jewgeni Iwanowitsch Rostov angefordert?«
»Du meinst den Ermittler aus Murmansk? Nein, glaub ich nicht … das war doch der Konsul, oder? Ja, ich bin ganz sicher, dass unser Büro es nicht gewesen ist.« Jekaterina sah sie verwirrt an. »Wieso interessiert dich das?«
»Ich glaube, ich bin ihm schon einmal begegnet, verstehst du.« Ljudmila beugte sich vor und griff nach der Hand der anderen Frau. »Danke, dass du jederzeit bereit bist zu helfen, Katja … und jetzt muss ich dich um noch einen Gefallen bitten. Es könnte gefährlich sein …«
Knut stand vor seinem alten Hotelzimmer. Der Schlüssel steckte im Schloss. Innen wirkte es beinahe heimelig – das beruhigende Gurgeln des Heizkörpers, das abschreckende Arbeiterbild an der Wand, der leichte Geruch nach etwas Undefinierbarem, von dem er aber meinte, es sei russisch.
Er war so müde, dass es in seinen Ohren sauste. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Es musste über vierundzwanzig Stunden her sein. Er hängte die Jacke auf, zog die russischen Kleidungsstücke aus der Plastiktüte, die er aus dem Konsulat mitgenommen hatte, breitete sie auf dem Bett aus und strich sie mit den Händen glatt. Dann legte er seine Sachen auf den niedrigen Tisch zwischen den Betten – das Handy, die Kamera, die Seiten des kleinen Notizbuchs und einen inzwischen ansehnlichen Stapel mit Notizen aus den Gesprächen und Verhören. Er setzte sich und schaute sich alles an. Es wirkte so erbärmlich. Das sollte sie vor einem Mörder schützen, von dem noch immer niemand wusste, wer er war?
Das Hotel war leer und ruhig. Er fühlte sich erschöpft, konnte nichts anderes mehr tun, als sich hinzulegen. Neues Bettzeug, bemerkte er. Zum ersten Mal während seines Aufenthaltes in Barentsburg schlief Knut mit einem Gefühl der Geborgenheit ein, das er nicht analysieren wollte. Er nahm die tiefe Dunkelheit nur dankbar
Weitere Kostenlose Bücher